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Rache der Outcasts

■ Wer im sportlichen Wettbewerb zurückfällt, wird an US-Schulen zum Außenseiter. Die Schützen von Littleton schlugen zurück

Amerikanische Kinderzimmer ähneln manchmal Waffenlagern. Gewehre, Pistolen aller Art, selbst Bomben fanden sich dort in den letzten Tagen. Gesucht hatte man, weil Mitschüler und Bekannte, aufgeschreckt durch das Schulmassaker in Littleton, plötzlich darauf achteten, was kleine Revolverhelden so alles sagen. „Wir müssen auf jede Kleinigkeit reagieren, weil wir die wirkliche Gefahr nicht von der imaginären unterscheiden können“, beschrieb Pat Lewis den Ausnahmeszustand, in dem sich Amerikas Schulen derzeit befinden. Der Chef des Schuldistricts Coalinga in Kalifornien hatte gerade zwei Schüler festnehmen lassen. Einer von ihnen hatte gedroht, seine Schule in die Luft zu sprengen. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn legte ein 14jähriger eine Todesliste an. Ein Schuldistrikt New Jerseys schloß am Freitag alle Schulen – elektronische Post hatte zuvor Schüler gewarnt, Hillsborough werde schlimmer als Littleton. Die Angst vor Nachahmungstaten sind das eine. Schrecken und Schock sind das andere. „Die Schüler haben einfach Angst, und es fällt ihnen schwer, das zu sagen“, berichtet Brian Quinby, Betreuer an einer Internatsschule in der Nähe von Chicago. Nach außen geben sie sich cool, die Zöglinge der Illinois-Akademie für Mathematik und Wissenschaft (IMSA). „Littleton war außergewöhnlich“, findet IMSA-Schüler Kevin. Eine neue Dimension? Die Teens, alle weiß, alle so alt wie die Täter von Littleton, sind verunsichert. Acht „Shootings“ gab es in den vergangenen 39 Monaten in den USA. Matt hat nachgezählt: Sie verwüsteten alle die homogen weißen Lehranstalten, die Kaderschmieden des Mittelstands – nicht die Problemschulen der Großstädte, die durch schlechte Leistungen, Rassenprobleme und Waffendetektoren von sich reden machen.

Nach dem Massaker war eine der ersten Forderungen, wieder Schuluniformen einzuführen. Ein Kongreßabgeordneter verlangte, Rektoren müßten auffällig gekleidete Schüler ausschließen. Die Columbine-Täter hatten schwarze Trenchcoats getragen. „Es ist Unsinn, den Leuten zu verbieten, sich durch Unterschiedlichkeit auszudrücken“, kommentiert IMSA-Schüler Ricardo. Sein Nebenmann will lieber herausfinden, was Kinder aus weißen Mittelstandsfamilien dazu treibt, „Waffen in die Schule zu bringen, um so etwas zu tun“. Beide wissen, der Anpassungsdruck an den High-Schools ist bereits jetzt enorm hoch – der, den Mitschüler ausüben.

Von den verschiedenen sozialen Gruppen, die sich an amerikanischen Oberschulen herausbilden, genießen keinesfalls alle den gleichen Stellenwert. „Es ist schade, daß akademische Leistungen so wenig angesehen sind“, beschrieb Devon Adams die Situation an der Columbine High School vor dem Attentat. Wie fast überall im Land verbindet sich soziales Prestige dort stark mit bestimmten Sportarten. Football ist viel höher angesehen als Soccer (der europäische Fußball, den häufig Mädchen spielen). Auch Basketball und Baseball zählen. Wer etwas anderes macht, ist nur ein „Skater“.

Die Hierarchie des Sports setzt sich als soziale Hierarchie auf dem Schulhof fort. Footballcracks beanspruchen den besten Platz in der Cafeteria – umringt von weiblichen Fans, den Cheerleadern. Devon Adams, die mit einem der Littleton-Schützen befreundet war, berichtete in einer Zeitung, wie sehr die „Jocks“, die Athleten, die späteren Täter verhöhnten. „Sie haben sie Fags genannt“ – das Schimpfwort schlechthin: Fags, das sind für amerikanische Oberschüler Unnormale, Unappetitliche, Schwule. „Ich kann verstehen, wie diese Leute zuviel bekommen haben von verbaler Demütigung“, fügte Andrew Fraser hinzu, selbst Columbine-Schüler.

Sport ist als Leistungsmesser aus amerikanischen Schulen und Hochschulen nicht wegzudenken. Mit ihm verbindet sich nicht nur viel Prestige, über den Sport vermittelt sich der uramerikanische Gedanke schlechthin: Wettbewerb. Selbst an den Eliteuniversitäten haben gute SportlerInnen einen Vorteil. Manche Uni immatrikuliert gern mal einen miesen Abiturienten, wenn er als Spitzensportler nur hilft, Ruf und Ruhm der Uni zu mehren. Als Auslesefaktor macht Sport bis zu 40 Prozent der Aufnahme aus. Er ist Teil des hochgezüchteten amerikanischen Prinzips „Mens sana in corpore sano“ – und hat eine Kehrseite: Neben strahlenden Gewinnern gibt es einen Kreis von Verlierern. „Sie leiden schweigend, entfremdet und ohne echte Beziehung zu Erwachsenen“, erläutert Carol Miller Lieber von den „Erziehern für Soziale Verantwortung“ in Cambridge, Massachusetts.

Die beiden Außenseiter von Littleton seien „nice guys“ gewesen, berichten ihre Mitschüler: schweigsam, aber hilfsbereit gegenüber jenen, die sie besser kannten, und keinesfalls dumm. Gewalt haben sie nicht nur ausgeübt, sondern zunächst erlitten. Die „Jocks“ haben mit Cola-Büchsen und Steinen nach der „Trench Coat Mafia“ geworfen, wie sie die Clique nannten, zu der die beiden Schützen sich rechneten. Ganz normaler Schulterror, den jene erleiden, die sich den Sekundärtugenden der Karriereschmieden verweigern. Mit dem wachsenden Wettbewerb innerhalb der Schulen, so beklagen Rektoren allerorten, sinke das Niveau an Zivilität – und wachse die Wahrscheinlichkeit, daß ein kleiner Teil von Studenten bereit ist, ihren Frust auszuagieren. Und sei es nur für einmal. Am Wochenende zitierte die New York Times zum erstenmal einen Schüler mit den Worten, er „sympathisiere“ mit den Todesschützen. „Ich fühlte, daß es geschehen mußte“, bekannte sich David Yarovesky, Abiturient einer High-School in Los Angeles, zu den Outcasts. Nun müsse Amerika feststellen, „daß in seinen Schulen etwas falsch läuft“. Christian Füller

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