Vom Erdenbürger zum Netizen: Heidi, der Pfaffe und die Blizzards über Chicago
■ Eine eher emotionale Einführung in die Welt der neuen Netze in schätzungsweise zehn Folgen / Vierte Lieferung: Das Telefonat
Zur Erinnerung: Der Autor hatte auf der virtuellen Suche nach dem echten Glück die Orientierung verloren. Hatte er nicht längst die Identität Tanias angenommen und sich in jene so schöne und amüsante wie hinterlistige Studentin aus Oy-Mittelberg verwandelt? Oder war er Max_15, der 13jährige Rund-um-die-Uhr-Surfer aus Bochum? Er zweifelte, war ratlos, trank zuviel. Der Protestant in ihm verordnete eine zweimonatige Internet-Abstinenz und verbot auch Zugriffe auf nicht nur für Journalisten nützliche Seiten (z.B.: www.paperball.de oder www.zeit.de ). Sieben Monate später klingelte sein Telefon. Heidi war dran.
Ich hatte Tania, die mein zweites und dunkles Ich geworden war, verbannt. Ich schickte die Tyrannin aller Chatter auf eine Reise zu den Pitcairn-Inseln. Dieses Ar-chipel, das man in guten Atlanten zwischen Tahiti und den Osterinseln findet, war wegen eines kartographischen Fehlers einst die Zuflucht der Meuterer auf der Bounty. Jemand hatte mir erzählt, daß auf den Pitcairn-Inseln, die im Internet (unter http://library.puc.edu/pitcairn) eifrig um Touristen werben, jeder mit jedem verwandt ist. Nur einmal im Monat kommt ein Schiff vorbei. Ich dachte: Das ist gut. Tania wollte Familie, und so waren die Pitcairn-Inseln genau der richtige Ort für die dunklen Seiten in mir. Ihre letzte Mail erreichte mich aus dem Institut Français auf Tahiti. Sie schrieb, daß sie einen Typen kennengelernt hätte, der aussah wie der junge Marlon Brando in der Rolle des Fletcher Christian in der „Meuterei auf der Bounty“. Ich wünschte ihr Glück, doch danach hörte ich nichts mehr von ihr.
Meine Erkundungstouren durch die Privatsphären des Internet und seiner Ableger waren nun ganz sachlich. Weitere Exzesse hatte ich mir – oder war es Julia_34, die Pastorentochter aus Schrunz? – verboten. Nie wieder wollte ich unter Pseudonym Jungs verführen. Nie wieder wollte ich mich unter meinem anderen Aliasnamen mit Christine, einer angeblich 46jährigen Hure aus Neuchatel treffen, um Jagd auf Spießer im Netz zu machen. Eine innere Stimme drohte andernfalls, mir drei Wochen lang einen Modern-Talking-Hit ins Ohr zu setzen. Ich gab mich geschlagen. Wenig später lernte ich Heidi kennen.
Es begannen die Wochen, in denen ich mich in den Chat-Foren nicht ohne Grund als Paulus anmeldete. Anfangs begrüßten mich die anderen noch mit Sprüchen. „Bist Du Pfaffe oder was?“ war noch der harmloseste. Doch selbst meine schärfsten Widersacher schickten mir bald Mails und fragten um Rat. Ich tröstete Inka, als ihr Freund mit ihr Schluß machte und ihr ankündigte, fortan nur noch alle zwei Tage mit ihr chatten zu wollen. Ich half Marius_19 durchs Abitur. Und Katharina und Stefan aus Münster führte ich durch eine „Kleine Schule des Lokaljournalismus“. Ich gab Unterricht, Trost und Lebenshilfe, und ich leistete Hausfrauen Gesellschaft. Ich konnte es mir selbst nicht erklären, aber Paulus hatte eine ungeheure Wirkung auf Hausfrauen. Auch Heidi war Hausfrau.
Sie stammte aus einer nicht weit von hier entfernten Gegend. Dort werden die Ortschaften Straßendörfer genannt und sind so lang wie die Kanäle, die diese Landschaft durchziehen. Man kennt sich und weiß doch zu schweigen. Es soll dort Nachbarn geben, die nach einem Streit 23 Jahre lang nicht mehr miteinander geredet haben. Gleich nach der Schule ist Heidi ausgewandert. Für ein Au-pair-Jahr ging sie in die Nähe von Chicago. Und dort ist sie für die nächsten Jahre geblieben.
Als ich sie kennenlernte, tobte ein Blizzard über ihr Haus hinweg. Sie erklärte mir, was ein Blizzard ist, und dann vertagten wir uns auf den nächsten Abend, der für mich schon Nacht war. Ganz am Anfang fragte ich noch, was sie zu tun hatte. „Essen kochen, weil mein Mann gleich kommt“, war die immer gleiche Antwort.
In den nächsten Nächten erfuhr ich, daß Heidi mit 19 schwanger wurde und jetzt, mit 32, drei Kinder hat und eine Ausbildung beginnen will. Ihr Mann, der eine sehr nudellastige Ernährung bevorzugte (gern: Ravioli in Tomatensauce, auch gern: Maccheroni in Tomatensauce), hatte etwas gegen Heidis Chatterei. Doch sie wollte ihr Deutsch nicht verlernen, erklärte sie ihm. Vor allem das Deutsch, das gute Freunde miteinander sprechen. Aber das erklärte sie ihm nicht.
Im Lauf der Monate erfuhren Heidi und ich alles voneinander. Ich stellte sie mir selbstbewußt, kosmopolitisch und durchs Leben gebildet vor. Ich wußte, sie würde nicht bei ihrem Mann bleiben. Eines Tages klingelte das Telefon. Heidi meldete sich. Ich hörte ihre Stimme. Ich war sprachlos.Denn sie klang furchtbar. Ich habe sofort alle meine Internet-Konten geändert.
Christoph Köster
Lesen Sie (oder darf ich schon Du sagen?) in der nächsten Folge, warum auch der Autor besser nicht zum Anrufer geworden wäre und wie er trotzdem auf sein erstes Blind Date zusteuerte.
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