Zwischen Fortschritt und Moral

Auf dem Gebiet der pränatalen Diagnostik sind in den letzten Jahren große Forschungserfolge erzielt worden. Viele der möglichen Krankheiten, über die sich die werdenden Eltern Aufschluß erhoffen, lassen sich aber erst nach Ablauf der Zwölfwochenfrist untersuchen. Damit ist die Option einer Spätabtreibung vorprogrammiert – und die Frage nach der Ethik des technisch Machbaren  ■ Von Cristina Nord

Veitstanz heißt sie in der Umgangssprache, in der medizinischen Fachterminologie Huntington-Chorea: eine Krankheit, bei der Kontraktionen einzelner Muskeln oder ganzer Muskelpartien, die sich jeder Kontrolle entziehen, zu Bewegungsstörungen führen. Da auch das Großhirn angegriffen wird, kommt es außerdem zu Antriebs- und Affektstörungen, zu Psychosen und geistigen Verfallserscheinungen. Verursacht wird die Huntington-Chorea durch eine Chromosomenanomalie, die in der Hälfte der Fälle vererbbar ist. Die Symptome stellen sich ab etwa dem dreißigsten Lebensjahr ein.

Dank der Fortschritte auf dem Feld der Humangenetik kann die Huntington-Chorea seit einigen Jahren im Chromosomensatz nachgewiesen werden; eine Frau, deren Mutter oder Vater an der Erkrankung litt, kann also ermitteln lassen, ob auch bei ihr die Anlage dazu vorliegt. Und dank der Fortschritte auf dem Gebiet der vorgeburtlichen Diagnostik kann sie, sollte sie schwanger werden, feststellen lassen, ob der Fetus betroffen ist oder nicht.

Doch die Sicherheit, die die Errungenschaften humangenetischer und pränataldiagnostischer Forschung verheißen, trügt. Führt die Untersuchung des Fruchtwassers oder des Mutterkuchens zu einem auffälligen Befund, so sieht sich die Schwangere jäh mit einer Situation konfrontiert, in der ihr der medizinische Fortschritt nicht länger zur Seite steht. Behandlung oder gar Heilung ist derzeit in kaum einem Fall pränatal diagnostizierter Erkrankung möglich, und so bleibt neben der Fortsetzung der Schwangerschaft nur eine Wahl: die Abtreibung.

Da vorgeburtliche Untersuchungen verläßliche Befunde erst hervorbringen, nachdem die Zwölfwochenfrist längst verstrichen ist, muß der Eingriff zu einem entsprechend späten Zeitpunkt erfolgen. Die Entwicklung des Fetus ist dann unter Umständen schon so weit vorangeschritten, daß er außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig wäre. Und manchmal den Eingriff tatsächlich überlebt, wie vor wenigen Wochen in einer italienischen Klinik und vor zwei Jahren in Oldenburg geschehen.

Dennoch entscheidet sich im Fall einer Chromosomenanomalie wie der Trisomie 21 (Down-Syndrom) der weitaus größte Teil der Schwangeren für die Spätabtreibung. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Spätabtreibungen auf etwa 1.600 bis 1.700 Eingriffe pro Jahr, schätzt Professor Rüdiger Rauskolb von der Frauenklinik Northeim. Genauere Angaben kann der Chefarzt, der sich seit den frühen siebziger Jahren mit pränataler Diagnostik beschäftigt und zum Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gehört, nicht machen, da die Fälle statistisch nicht erfaßt werden.

Um das gewünschte Resultat – die Totgeburt – zu erlangen, reicht es ab etwa der 24. Schwangerschaftswoche nicht mehr aus, wehenfördernde Mittel zu verabreichen und damit eine Geburt einzuleiten, die der Fetus nicht überstehen kann. Statt dessen ist es notwendig, einen Fetozid durchzuführen, den Embryo also bereits im Mutterleib zu töten. Dies geschieht, indem die Blutversorgung über die Nabelschnur unterbunden oder eine Kaliumchloridlösung injiziert wird. Gekoppelt an die Abgabe von Barbituraten, stellt dieses Verfahren eine weniger schmerzhafte Methode des Spätabbruchs dar als die bloße Gabe weheneinleitender Mittel.

Umstritten ist der Fetozid natürlich trotzdem. Schließlich führt er geradezu exemplarisch vor, wie arbiträr die Grenze zwischen Leben und Tod gesetzt wird: Solange sich der Fetus im Mutterleib befindet, ist seine Tötung anvisiert. Kommt er jedoch wider Erwarten als Frühgeburt zur Welt, müssen Ärzte und Ärztinnen alle intensivmedizinischen Maßnahmen ergreifen, um ihn am Leben zu erhalten. Und im übrigen damit rechnen, auf Schadenersatz verklagt zu werden.

Nach Paragraph 218a Abs.2 ist der Abbruch selbst kurz vor der Geburt noch möglich, wenn er unter die medizinische Indikation fällt, das heißt, wenn er „unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse notwendig ist, um Lebensgefahr oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der schwangeren Frau abzuwenden“. Doch die Stimmen mehren sich, die diese Indikation für einen Vorwand halten und nach einer Einschränkung verlangen. Nicht nur Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) macht sich für eine Neuregelung stark, auch die Bundesärztekammer und Behindertenverbände plädieren dafür. Wie diese Regelung allerdings aussehen soll, darüber herrscht keine Einigkeit.

Aus Scheu, den 1995 unter Mühen erstrittenen Kompromiß im Abtreibungsrecht zu gefährden, will die Justizministerin den Paragraphen 218 nicht antasten. Sie regt statt dessen eine Regelung auf berufsrechtlicher Ebene an. Das wiederum geht der Bundesärztekammer nicht weit genug. In einer 1997 erarbeiteten Erklärung fordern namhafte Humangenetiker und Gynäkologen, die 1995 auf Drängen von Behindertenverbänden abgeschaffte embryopathische Indikation wiedereinzuführen – vor allem, weil damit eine Frist von 22 Wochen festgeschrieben würde, nach deren Ablauf keine Abtreibungen mehr vorgenommen werden dürften. Der umstrittene Fetozid würde sich damit erübrigen – es sei denn, für die Schwangere bestünde akute Lebensgefahr.

Vertreter von Behindertengruppen wollen von diesem Vorschlag nichts wissen. „Ich finde es richtig, Spätabtreibungen zu unterbinden“, sagt Katrin Metz vom Netzwerk behinderter Frauen Berlin. „Aber ich bin gegen die Wiedereinführung der embryopathischen Indikation, denn das bedeutet nichts anderes als eine Sonderabtreibungsfrist für behinderte Föten.“ Mit großer Skepsis begegnet die Diplompädagogin der pränatalen Diagnostik, die in ihren Augen die Schwangeren unnötig verunsichere und zudem der Selektion diene. Derzeit gebe es zu wenige Einrichtungen, in denen „die Ängste der Mütter ernst genommen werden und in denen auch behinderte Beraterinnen arbeiten, so daß ein anderes, ein positiveres Bild von Behinderung entsteht“.

Mit Abtreibungsgegnern und selbsternannten Lebensschützern will Metz freilich nicht gleichgesetzt werden. Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der Zwölfwochenfrist hält sie für vertretbar; nicht umsonst habe es lange, kontroverse Diskussionen zwischen Frauen- und Behindertenbewegung gegeben, aus denen ein Kompromiß hervorgegangen sei. „Die Frau hat ein Recht zu entscheiden, ob sie ein Kind will oder nicht“, resümiert Metz, „aber sie hat kein Recht, über die Qualität des Kindes zu entscheiden.“ Daß diese mittlerweile zehn Jahre alte Perspektive der heutigen Praxis nicht immer standhält, ist Metz durchaus bewußt. Wie zeitgemäß der Kompromiß angesichts der medizinischen Fortschritte sei, könne sie nicht mit Bestimmtheit beantworten. Und möglicherweise droht auch die Gefahr, ein allgemeines Problem – die mangelnde Bereitschaft, mit Behinderten zu leben – auf die einzelnen Frauen und Paare abzuwälzen.

Für Brigitte Sorg, Expertin für Pränataldiagnostik im Feministischen Frauen Gesundheits Zentrum Berlin (FFGZ), ist genau dies das Dilemma. „Auf dem Rücken der einzelnen Frau“ werde ausgetragen, was ein „gesellschaftliches Problem“ sei. „Frauen sollen möglichst gesunde Kinder auf die Welt bringen“, meint die Sozialpädagogin, „deshalb gibt es ja die pränatalen Untersuchungen.“ Die Mitarbeiterin des FFGZ vermißt eine offene Diskussion über die Problematik der vorgeburtlichen Diagnostik. Bevor Triple Test, Amniozentese oder Nabelschnurpunktion überhaupt zum Einsatz kämen, müsse den Schwangeren klar sein, „daß der Fetozid deren letzte Konsequenz ist“. Dabei redet Sorg keiner schlichten „Zurück zur Natur“-Parole das Wort. Das Rad zurückzudrehen und auf Pränataldiagnostik zu verzichten sei wohl kaum möglich. Zumal sich viele Schwangere aus eigenen Stücken für die Diagnostik entschieden.

Rüdiger Rauskolb weiß ähnliches zu berichten, wobei sich für ihn die Frage nach Sinn oder Unsinn pränataler Diagnostik schnell beantwortet. „Für 99 von 100 Frauen, bei denen diese Untersuchungen durchgeführt werden, bedeuten sie Beruhigung“, meint der Gynäkologe. Die Einwände der Behindertenverbände gegen die embryopathische Indikation kann er zwar nachvollziehen, doch sieht er zugleich eine breite gesellschaftliche Akzeptanz dafür, daß behinderte Feten abgetrieben werden. Letztlich sei auch die Frage nach dem Zeitpunkt willkürlich. „Alle Methoden führen zur Tötung des Kindes“, meint Rauskolb. Ob in der 9. oder in der 24. Schwangerschaftswoche – „ethisch ist da überhaupt kein Unterschied.“

Wie konsequent es ist, wenn Ärzte einerseits für die Einschränkung später Abtreibungen plädieren, andererseits aber an der Weiterentwicklung der Pränataldiagnostik, vor deren Hintergrund solche Abtreibungen überhaupt erst möglich werden, teilhaben, ist fraglich. Fest steht soviel: Je avancierter die Diagnosemethoden, um so größer ist das ethische und juristische Vakuum, das sich in ihrem Schatten herausbildet. Und um so schwerer wiegt natürlich die Entscheidungslast für die werdende Mutter und deren Partner.

Hinzu kommt, daß sich seit mehreren Jahren die Schadenersatzprozesse im Zusammenhang mit pränataler Diagnostik häufen. Versäumt es etwa ein Arzt, einer 38jährigen Schwangeren zu den Untersuchungen zu raten, kann er, so das Kind behindert zur Welt kommt, mit Regreßforderungen überzogen werden. Denn mittlerweile haben schwangere Frauen ab 35 einen Rechtsanspruch auf Pränataldiagnostik. Vor diesem Hintergrund neigen Ärzte dazu, die Palette der Untersuchungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Von einer „Spirale“ spricht Brigitte Sorg in diesem Zusammenhang. Und weist darauf hin, daß auch die Methoden der Pränataldiagnostik selbst ein – wenn auch geringes – Fehlgeburtsrisiko bergen.

Je weiter das Wissen – und damit der Spielraum – der Humangenetik und der Reproduktionstechnologie reicht, um so schwieriger wird es zu bestimmen, was moralisch und rechtlich vertretbar ist. Hierzulande darf ein im Reagenzglas gezeugter Embryo laut Embryonenschutzgesetz nicht auf genetische Anomalien hin untersucht werden, bevor er in die Gebärmutter implantiert wird, während ein fünfzehn Wochen alter Fetus ganz selbstverständlich auf solche Abweichungen hin überprüft und im Zweifelsfall eben auch abgetrieben wird. Ein Embryo im Präimplantationsstadium ist unantastbar, derselbe Embryo im Mutterleib ist es nicht: Ist das konsequent? Ganz zu schweigen vom Fall der hirntoten Schwangeren, die in einer Memminger Klinik künstlich am Leben erhalten wurde, damit der Fetus in ihrer Gebärmutter zur Welt kommen konnte.

Zugleich hindern die technisch-medizinischen Möglichkeiten niemanden daran, unterderhand Kosten-Nutzen-Rechnungen aufzustellen: Wie hoch sind die Aufwendungen für ein behindertes Kind, wie groß im Vergleich dazu die Ausgaben für an möglichst vielen Schwangeren vorgenommene pränatale Untersuchungen? Da mag es kaum noch erstaunen, wenn sich jemand ernsthaft Gedanken darüber macht, ob ein Fetus mit der Anlage zu einer Krankheit wie Huntington-Chorea abgetrieben wird – auch wenn deren Symptome erst ab dem dreißigsten Lebensjahr auftreten.

In einem Punkt stimmen Rauskolb, Metz und Sorg denn auch überein: Behinderungen gehören zum Leben. Das Recht auf ein perfektes Kind gibt es nicht.

Cristina Nord, 30, lebt als freie Journalistin in Berlin