8. Mai: Wenn der Krieg zu Ende ist

■ n Historische Analogien zwischen dem Nationalsozialismus und dem Milosevic-Regime sind falsch und verhindern ein angemessenes Verstehen. Die Besetzung Nazideutschlands durch die Alliierten taugt nicht zum Modell für eine Demokratisierung Jugoslawiens

Berlin (taz) – Was immer auch die Deutschen am 8. Mai 1945 empfunden haben mögen – mittlerweile hat sich herausgestellt, daß die bedingungslose Kapitulation von Nazideutschland einer der größten Glücksfälle unserer Geschichte gewesen ist. Den Westdeutschen ermöglichte sie – schrittweise – den Übergang zu einer humaneren, der westlichen Zivilisation, die Ostdeutschen mußten sich bekanntlich etwas länger gedulden. Manche warten bis heute.

Die Verbindung von Besetzung, Re-education und Marshallplan entsprang einer einmaligen historischen Konstellation. Sie entstand unter dem Schock der buchstäblich menschheitsbedrohenden hitlerischen Expansions- und Vernichtungspolitik. Aber wie jedes erfolgreiche historische Projekt wird auch die Ummodelung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg unter Modellgesichtspunkten gesehen. Vor allem jetzt, angesichts des Wütens der serbischen Truppen im Kosovo, angesichts der Massenvertreibungen und des Massensterbens. Wäre es nicht wünschenswert, Serbien die gleiche wohltätige Behandlung angedeihen zu lassen wie Nazideutschland? Wenn schon Krieg, dann richtig, bis zur bedingungslosen Kapitulation von Miloevic? Es gibt Leute, die das für eine verführerische Idee halten. Aber ist sie auch wünschenswert?

Von der rot-grünen Regierung wird zur Rechtfertigung der Bombardements auf Jugoslawien mit Analogien zum SS-Staat, sogar zu Auschwitz nicht gespart. Moshe Zimmermann, der israelische Publizist, hat diese Tendenz als „Vertugendung“ des eigenen, westlichen Versagens, der eigenen Mitschuld am Gemetzel (kraft vorhergehenden Wegsehens) interpretiert. Wir brauchen diese „Überhöhung“, diese Instrumentalisierung von Begriffen nicht, um das Miloevic-Regime als terroristisches zu charakterisieren. Im Gegenteil verhindert gerade diese Analogie zum Nazifaschismus angemessenes Begreifen und angemessene Reaktionen.

Es trifft nicht zu, daß die serbische Gesellschaft so unheilbar tief in die Stereotype nationaler Selbstverhimmelung verstrickt ist, daß sie nur von außen von ihnen kuriert werden kann. Ebensowenig wie man davon sprechen kann, daß das ganze Volk Opfer jener hysterischen Disposition geworden ist, die stets Ursache und Wirkung, Täter und Opfer verwechselt, die, während sie andere Völker quält, ihr eigenes Martyrium zu erdulden glaubt. All diese Dispositionen sind massenhaft vorhanden, aber auch die potentiellen demokratischen Gegenkräfte, die allerdings aufgrund der Bombardements mit Miloevic zwangsvereinigt worden sind.

Hat man gänzlich vergessen, daß im Winter 1996/97 Hunderttausende der Kälte wie der Polizei trotzten und zuerst in Belgrad, dann aber auch in anderen Städten Serbiens unter demokratischen Parolen gegen Miloevic demonstrierten? Natürlich sparten damals – opportunistischen Erwägungen folgend – die Führer des Zajedno-Bündnisses die Frage von Demokratie und Selbstbestimmung im Kosovo aus. Aber wer sagt uns heute, daß diese Taktik der Oppositionspolitiker die einzig mögliche und erfolgreiche gewesen war?

Gerade eine Politik, die auf die Demokratisierung der serbischen Verhältnisse zielt, wäre gut beraten, nicht auf Anpassung an potentielle Siegermächte zu setzen, sondern auf gesellschaftliche Bewegungen des Widerstands und Protests. Man hat oft und zu Recht auf die Schwäche der serbischen Bürgerrechtsbewegung hingewiesen, auf den schändlichen Übergang der einstigen demokratischen Sozialisten ins Lager von Miloevic. Aber ist dieser Prozeß unumkehrbar? Und außerdem: Haben nicht erst die großen Protestbewegunggen seit den 60er Jahren die Demokratie in Deutschland wirklich verwurzelt, zum Lebensbedürfnis vieler gemacht?

In der gegenwärtigen Debatte melden sich zu viele Spezialisten zu Wort, die mit der Langfristigkeit völkerpsychologischer Konstanten hantieren, und zu wenige, die die verändernde Kraft ökonomischer und sozialer Faktoren sehen. Damit ist keinem kruden Materialismus das Wort geredet, sondern einer komplexen Politik, die ökonomische Angebote mit demokratischen Forderungen verbindet und generell die wechelseitigen Abhängigkeiten in der Region erhöht. Eine Politik, die – nur hierin der Besatzungsmacht im Westen Deutschlands nach 1945 ähnlich – durch Einladungen, durch Austausch, durch Stipendien, durch großzügigen Kulturtransfer der chauvinistischen Abkapselungspolitik den Boden entzieht. In den Jahren nach 1945 war es für den Westen Deutschlands nicht nötig, auf internationalen Konferenzen die Details des Wiederaufbaus festzulegen. Dafür sorgten die Imperative des Kalten Krieges. Ein solcher durch die Konkurrenz der Systeme und den Ost-West-Gegensatz gestifteter Automatismus existiert heute nicht mehr. Heute muß alles mühselig ausgehandelt und anschließend bezahlt werden.

Heute gilt: nicht auf die Besetzung Serbiens setzen, sondern auf die demokratische Verführung seiner Einwohner.

Christian Semler