Der Wunderglaube bleibt

■ Nach dem 1:2 gegen Eintracht Frankfurt kann Werder nur noch auf eines setzen: die Schwäche der direkten Konkurrenz / Ob Altfan Jürgen doch wieder ins Stadion geht?

“Weißu“, sagt der Fußballfreund Jürgen, zieht mühsam die Lederjacke zu und lehnt sich noch einmal gegen den Türpfosten. „Weißu, das war das erßemal seit sweiunsipßich, daßichnich im Stadion war. Und das heißtwas!“ Kann ein Mensch verzweifelter gucken? Kaum.

Fußballfreund Jürgen wankt aus der Tür. Hängende Schultern. Ein Bild des Jammers. Ganz so, als sei das schon passiert, was alle fürchten, daß es passiert, was noch nicht passiert ist, aber irgendwie dann doch schon. Aus, Feierabend, Abstieg. Jürgens Jammer, die Tränen der Fans in der Ostkurve, der traurige Kammerton in den umliegenden Gastwirtschaften, die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Spieler, die Leichenbittermiene von Willi Lemke signalisieren das Ende der Hoffnung, daß sie's doch noch schaffen können. Irgendwie. Denn „irgendwie“ hatten sie's probiert am Freitag abend. Und irgendwie reicht eben alles nicht aus. 1:2 gegen die Frankfurter Eintracht, Werder ist im freien Fall nach Osnabrück.

Die Erkenntnis ist so bitter wie schlicht: Mehr ist offenbar nicht drin. Und was drin ist, das reicht nicht mal dafür aus, den Tabellenvorletzten zu putzen. Trotz aller flammender „Jetzt gilt's“ und „Das vielleicht wichtigste Spiel der Vereinsgeschichte“. Trotz aller vereins-präsidialen Ansprachen, trotz der wutschnaubenden Interviews von Andi Herzog und Frank Rost. Trotz des großen Kämpferherzens von Dieter Eilts, trotz der lautstarken Unterstützung der Fans. Henning Scherf und Klaus Pierwoß hätten noch hundertmal ums' Stadion radeln können. Es reicht nicht. Und nach dieser emotionalen Großinszenierung glaubt auch kaum noch einer, daß es doch noch reichen könnte. Irgendwie. So hochgegeigt die Gefühle waren, so tief ist nun die Depression.

Nüchtern betrachtet, war der Kick gegen Frankfurt die schiere Fortsetzung des fußballerischen Elends, das die leidgeprüften Bremer Fans nunmehr seit vier langen Jahren ertragen müssen. Spieltag für Spieltag für Spieltag müht sich eine Mannschaft, die eigentlich keine ist. Je länger es dauert, desto weniger. Einzelspieler, die in eben diesen vier Jahren von mittlerweile fünf Trainern zusammengewürfelt worden sind – Rehhagel, de Mos, Dörner, Sidka, Magath. Einzelspieler, die allesamt in der Lage sind, ordentliche, in manchem Fall sogar überdurchschnittliche Fußballkunst abzuliefern – allein: Es paßt nicht. Man weiß ja nicht einmal, wo hinein es eigentlich passen sollte.

Die Preisfrage der letzten Jahre war doch: Was ist Werder denn nun? Eine eher defensiv agierende, konterstarke Mannschaft? Setzt die Truppe eher aufs Flügelspiel? Auf den schnellen Kurzpaß? Man weiß es nicht. Und drum weiß man nicht, warum wer geholt worden ist. Und für welche Position.

Jens Todt wurde in Freiburg mit standing ovations verabschiedet. Er hatte als defensiver Mittelfeldmotor und Ballschlepper perfekt in das flotte Vinke-System gepaßt. Zweikampfstark und torgefährlich – so einen holt man gerne. Es dauerte nicht lange, bis er sich in Bremen in der Rolle des Manndeckers wiederfand. Unter Magath spielt er wieder im Mittelfeld, aber so verschwommen die Spielweise ist, so schwach agiert auch er.

Mit Jurij Maximov wurde ein technisch versierter Spieler aus einer Mannschaft herausgekauft, die den schnellen Kurzpaß in Perfektion beherrscht. Ein System, das in Bremen nie zu Hause war – und nie angesiedelt werden sollte. Maximov mußte fremd bleiben. Als ob der Turmspringer plötzlich Wasserball spielen müßte: Du kannst doch schwimmen, oder?

Cardoso, Baiano, Todt, Maximov, Wicky, Skripnik – die Reihe der Mißverständnisse läßt sich beliebig verlängern. Die Reihe der guten Fußballer, die allesamt in Bremen mangels Spielidee und der dazugehörigen Personalpolitik zu schlechteren Fußballern mutiert sind.

Selbst Harvard Flo schädelt wieder Tore. In England, wo er die dazugehörigen Flanken erwarten darf. In dieser Combo inkompatibler Einzelkönner wirkt es wie ein wehmütiges Echo aus einer längst untergegangenen Zeit, wenn Spieler wie Herzog und Eilts Mannschaftsgeist und Einsatz anmahnen. Ein Fall von Autosuggestion. Denn „die Mannschaft“ – das sind eben nur noch die Übriggebliebenen, die sich erinnern, daß da mal was war, was sich so nennen durfte, die Testamentsverwalter der Ära Rehhagel. 1:2 gegen Frankfurt – mehr ist nicht drin.

Was bleibt, ist der Wunderglaube. Vielleicht marmelt der eine oder andere Werderaner doch noch ein Tor gegen den Abstieg. Mag sein, sie haben Glück. Gut möglich, daß die direkten Abstiegskonkurrenten noch mieser drauf sind. Leben heißt hoffen.

„Weißu“, sagt Fußballfreund Jürgen. „Ich binnich hingegangen. Das is mein kleiner Protest.“ Morgen gegen Schalke ist er wieder im Stadion. Jochen Grabler