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Parkbänke zum Verlieben

Welt neben der Welt: Reisen in die unsichtbare Stadt der Obdachlosen mit dem Zeitschriftenprojekt „Noch schöner wohnen“ der Mission Direkt  ■ Von Ulrike Bals

Schmale Gänge, endlose Türkolonnen, trostlose Wartesäle: Stockwerk für Stockwerk legen Monika Gintersdorf und Jelka Plate im Landessozialamt ihre Hochglanz-Magazine aus. Noch schöner wohnen lautet der ironische Titel der „Zeitschrift für wohnungsloses Wohnen“. Die einmalige Ausgabe ist zugleich die jüngste und bisher stillste Aktion der Künstlergruppe Mission Direkt. Das trendige Layout im Stil einschlägiger Lifestyle-Journale will täuschen, denn unter der appetitlichen Oberfläche verbirgt sich ein unbequemes Thema: Obdachlose berichten vom Überleben auf der Straße und der Flucht vor der ständigen Öffentlichkeit.

Die Mission, ein Treffpunkt für Obdachlose, Künstler und Passanten, ist aus der nur auf kurze Zeit angelegten Inszenierung 7 Tage Notruf für Deutschland von Christoph Schlingensief hervorgegangen. Das Konzept „Betten, Suppe, Kultur“ bekam soviel Resonanz, daß bald schon aus den sieben Tagen zehn wurden und mittlerweile einige der Obdachlosen selbst zu den Organisatoren zählen. Die Miete der Missionsräume an der Kaiser-Wilhelmstraße 81 werden zu gleichen Teilen von der Kulturbehörde und dem Landessozialamt getragen.

Die Mission Direkt setzt sich je nach künstlerischem Projekt aus wechselnden Mitwirkenden zusammen. Die Idee für Noch schöner wohnen kam Monika Gintersdorfer bei ihrer Arbeit in der Mission: „Ich habe mich einfach gefragt, wo gehen sie nachts hin?“ Sie durfte einige der Wohnungslosen zu ihren geheimen Schlafplätzen begleiten. „Das waren manchmal stundenlange Fußmärsche“, erinnert sich die Künstlerin. Beim Gehen erzählten ihr die Straßenwanderer von ihrer ersten Nacht ohne Dach, den Tricks ohne Schutz zu überleben und ihrer anderen Wahrnehmung der Stadt. „Die Obdachlosen werden beobachtet. Aber sie sind auch selbst gute Beobachter. Ich wollte ihre Perspektive den anderen Stadtbewohnern zugänglich machen.“ In Zusammenarbeit mit Inga Meyer, Jelka Plate und Michael Brepohl entstand schließlich die einmalige Zeitschrift. Finanziert wurde der aufwendige Vierfarbdruck durch eine Sammlung im Schauspielhaus.

Die zahlreichen Zitate und Fotografien dokumentieren das Leben und Denken der Obdachlosen – ohne in Sozial-Polemik abzurutschen. Es ist vielmehr der Versuch, die Leser mitzunehmen auf eine ungewöhnliche Reise in eine unsichtbare Welt, deren Bewohner ihre private Zeit in der Öffentlichkeit verbringen. Nicht als Opfer, sondern als selbstbewußte Wohnspezialisten werden sie vorgestellt, deren Beobachtungen und Gedanken sich auf verblüffende Weise mit den philosophischen Äußerungen von Architekten, Stadtsoziologen und Künstlern decken.

„Für die Menge der Beschäftigungslosen ist die Großstadt zu einem Netz unendlicher Wanderungen und einer Folge von Straßen und Alleen geworden“, schreibt der zeitgenössische französische Philosoph Paul Virilio. Für die meisten von ihnen gehe es nicht mehr darum, dieses oder jenes Bauwerk zu besetzen, sondern schlicht, die Straße als letzte Bastion vor dem Nichts zu halten. „Heutzutage wird versucht, alles Mögliche wegzuräumen. Wir sollen unsichtbar sein. Aber wie sollen all die künftigen Arbeitslosen zum Verschwinden gebracht werden?“, fragt der Stadtnomade Ewald.

Ob sie auf Konzerten leere Flaschen einsammeln oder am Hafen entlang schlendern – die wandernden Beobachter haben Zeit, genau hinzusehen und zuzuhören. Da führt einer genaue Listen über Dinge, die er selbst doch nicht kaufen kann, aus Jux. Aber sein Wissen behält er lieber für sich. Ein anderer hat den gesamten Fahrplan der Busse und Bahnen im Kopf: „Man kann die ganze Nacht fahren“, erzählt er, „man darf nur nicht zu lange sitzen und warten, sonst holt Dich die S-Bahn-Wache. Dein Fahrplan muß auf Anschluß fahren.“

Der obdachlose Bernd X schaut auf die Stadt wie auf eine Ausstellung. Die Einkaufsmeile Mönckebergstraße mag er gerne, sagt er. „Weil es dort Schnell- und Langsamgeher, Musikgruppen und verschiedene Schichten von Bewegung gibt.“ Und Bernd Hilke hört zu: „In Kneipen, in Bussen, in den U-Bahnen. Alle Intimitäten werden ausgeplaudert, schon morgens im Bus. Ich würde das nicht erzählen“, meint er und vermutet, daß die Menschen einfach aus Langeweile erzählen, weil sie nichts zu erzählen haben, nichts erleben.

Wer zu Fuß durch die Stadt geht, ohne Ziel und Bestimmung, sieht eine andere Welt. Er geht langsam, wie Noch schöner wohnen schreibt, „meist wiegenden und gleichzeitig schlendernden Schrittes – wie ein Mann, der gewohnt ist, vor dem Wind zu segeln.“

Das Heft liegt unter anderem in der Mission und im Schauspielhaus aus.

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