: Dem Steinadler geht es prächtig
Bartgeier, Luchs, Bär, Wolf: Sie alle hat der Mensch in den Schweizer Alpen gnadenlos ausgerottet. Nur einer hat überlebt: der Steinadler. Heute geht es den Greifvögeln so gut wie seit Jahrhunderten nicht mehr ■ Von Urs Fitze
Der Steinadler war schwach und stark untergewichtig, als der Wildbiologe David Jenny ihn vor fünf Jahren im Berner Oberland einfing. Die Kraft hatte gerade noch gereicht, um eine streunende Hauskatze zu schlagen. Jenny montierte dem geschwächten Tier einen Sender, um dessen Kreise überwachen zu können. Ihn interessierte, wie sich dieser Adler in einer so lebensgefährlichen Krisensituation verhalten würde.
Während zwölf Tagen kamen die Signale aus verschiedenen Distanzen und Himmelsrichtungen, dann stets von der gleichen Stelle. Eine Peilung ergab einen Standort in einer Felswand. Nach langer Suche fanden David Jenny und sein Kollege Heinrich Haller das Tier: tot.
Der Adler hatte keine sichtbaren äußeren Verletzungen. Erst die genauere Untersuchung bei der Autopsie brachte es an den Tag. Elf Schrotkugeln fanden sich im Körper. „Er ist wahrscheinlich an einer Bleivergiftung elendiglich zugrunde gegangen“, analysiert Heinrich Haller.
Für den Wildbiologen, Direktor des Schweizerischen Nationalparks, sind Steinadler seit einem Vierteljahrhundert zum wissenschaftlichen Steckenpferd geworden. Haller, selbst passionierter Jäger, ärgert sich über jene ignoranten Weidmannskollegen, die noch immer glauben, Steinadler seien ihre Konkurrenten bei der Hatz aufs Wild. „Das ist eine uralte, von der Forschung längst widerlegte Mär. Steinadler erwischen Reh- oder Gemskitze, vielleicht im Spätwinter auch mal ein schon zu Tode geschwächtes erwachsenes Tier. Aber gesunde, ausgewachsene Tiere sind eine Portion zu groß für sie. Die fressen sie nur als Aas.“
Zwar wird dem Adler heute längst nicht mehr so nachgestellt wie noch im letzten Jahrhundert, als eine staatlich sanktionierte Ausrottungskampagne lief. Doch noch immer trägt ein Fünftel der aufgefundenen toten Adler Schrotkugeln im Leib. Die wirken nur selten sofort tödlich. Doch seien es die Schußwunden oder das Blei: Der Tod kommt schleichend und qualvoll.
Dennoch: Der Mensch stellt heute für die Steinadlerpopulation als Ganzes im Alpenbogen keine ernsthafte Gefahr mehr dar. 1.200 Paare brüten im Alpenraum, rund 300 sind es allein im Schweizer Gebiet. Haller hält es für möglich, daß diese Zahl auch aus historischer Sicht einem Rekord gleichkommt. Das liegt nicht nur daran, daß die Steinadler heute überall geschützt sind. Auch der Nahrungstopf – vor allem Murmeltiere, junges Schalenwild und Aas – ist prall gefüllt. Bär, Wolf, Luchs und Bartgeier sind verschwunden oder nur noch in rudimentären Beständen vorhanden.
In der Schweiz ist der Steinadler der einzige übergeordnete Beutegreifer, der die Vernichtungsfeldzüge des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts überlebt hat. Dabei wurde ihm wie den andern Raubtieren genauso übel nachgestellt. Generationen von Alpenbewohnern hatten sich kaum um sie gekümmert. Nur die wenigsten konnten Steinadler und Bartgeier unterscheiden. Noch heute wird das Wort „Girun“ in Vallader, der romanischen Sprache des Unterengadin, für beide Vögel gebraucht.
Die Probleme, die man sich mit den Haustiere reißenden Raubtieren eingehandelt hatte, waren weitgehend hausgemacht. Denn vor den Raubtieren hatte man das Schalenwild beinahe ausgerottet und damit die Nahrungsbasis entzogen. Um zu überleben, blieb Wölfen, Luchsen und Bären nicht viel anderes übrig, als über Lämmer und Kälber herzufallen. Aus reiner Unkenntnis wurden sowohl Bartgeier als auch Steinadler mit den Raubsäugern in den gleichen Topf geworfen. Bartgeier fressen Aas, vor allem Knochen. Und Steinadler vergreifen sich nur in Ausnahmefällen an Lämmern. Das Synonym „Lämmergeier“ für Bartgeier zeigt die Hartnäckigkeit der Legende.
Parallel zur Ausrottungskampagne an den vermeintlichen Wildräubern wurde das „friedvolle“ Wild verstärkt gehegt. Das entsprach dem damaligen Zeitgeist. Die Alpen, während Jahrhunderten nur als furchterregende Ansammlung von Steinhaufen und verarmten Bewohnern wahrgenommen, wurden, dem Geist der Aufklärung, folgend dem Menschen untertan. Und damit auch deren Natur. Die Kosten-Nutzen-Analyse sprach nun für das „Friedwild“ und gegen die Räuber, die zu Nahrungskonkurrenten wurden. So gab es schließlich Abschußprämien für Steinadler und andere Beutegreifer.
Der Blick in die Bündner Jagdstatistik zeigt die Folgen: In den 1870er Jahren wurden 51 Steinadler erlegt, in den 1880ern 107 und im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gar 150 Adler. Erst 1925 wurde die Vernichtung der Brut verboten; 1953 wurde der Steinadler in der Schweiz bundesrechtlich geschützt. Die Bestandszahlen nahmen während der Jahrzehnte intensiver Bejagung zwar dramatisch ab und erreichten wahrscheinlich nach der Jahrhundertwende ihren Tiefpunkt. Dennoch dürfte die Schweizer Steinadlerpopulation nie unter 100 Exemplare gesunken sein.
Am wesentlichsten dürfte gewesen sein, daß die Adler den Lebensbedingungen in den Alpen optimal angepaßt sind. Dort, wo es am steilsten ist, fühlen sie sich wohl. Sie sind gute Flieger: Bei einer Flügelspannweite von 2,20 Metern und einem Gewicht von nur fünf Kilogramm – diese Angaben gelten für Weibchen, Männchen sind kleiner: zwei Meter Spannweite und knapp vier Kilogramm Gewicht – können sie wie ein Segler stundenlang in der Thermik kreisen, ohne dabei viel Kraft zu verbrauchen. Doch legen Adler vor allem im jugendlichen Alter bis zu fünf Jahren auch extreme Distanzen von Tausenden von Kilometern zurück. Das macht sie von der Landschaftszerteilung weniger abhängig als andere Säugetiere.
Und Adler sind zudem sehr anpassungsfähig an verschiedene Lebensräume. Sie leben von der Sahara bis in arktische Gebiete. Eine offene oder halboffene Landschaft, geeignete, mittelgroße Tiere als Nahrungsgrundlage und Felsen oder hohe Bäume als Brutplätze sind die wichtigsten Bedingungen. Dies gilt für den Bartgeier nicht: Der riesige Vogel (Flügelspannweite: 2,80 Meter) ernährt sich zwar ausschließlich von Aas. Doch wenn er nur wenige Meter über dem Erdboden fliegt, um Knochen aufzuspüren oder welche fallenzulassen, damit sie zersplittern, kann das schon einen furchterregenden Eindruck erwecken. „Man hat sie aus reiner Angst und Unwissenheit ausgerottet“, sagt der Schweizer Bartgeier-Projektleiter Chasper Buchli. Noch ist nicht sicher, ob das seit zehn Jahren im Alpenraum laufende Wiederansiedlungsprojekt tatsächlich eine tragfähige Population erbringen wird.
Diese Sorgen kennen die Steinadler nicht. Sie dürften dabei auch davon profitiert haben, daß der Mensch noch rechtzeitig erkannte, daß es mit der Gefahr der Adler für Wild und Haustiere nicht allzuweit her ist. Seit den 30er Jahren haben sich Bestände wieder aufwärts entwickelt – mit Ausnahme des Jagdbannes von 1953 vom Menschen völlig unbeeinflußt. Aussetzungsaktionen wie beim Bartgeier und Luchs waren für die Steinadler nie notwendig. Heinrich Haller hört schon die Stimmen, die von „Überbeständen“ reden wollen. Daß davon keine Rede sein kann, haben die Studien von Heinrich Haller und David Jenny überzeugend nachgewiesen. Das Ergebnis lautet zusammengefaßt: Die Steinadler regeln ihre Population weitgehend selbst.
Ein Indiz für ihre These sind die Untersuchungen der Adlerkadaver, die am Bündner Naturmuseum seit Jahrzehnten vorgenommen werden. In Ferrera, südlich von Andeer im Hinterrheintal, fand ein Autofahrer auf der Kantonsstraße zwei kämpfende Steinadler. Das eine Tier floh, das andere war schwer verletzt und konnte eingefangen werden. Doch das verwundete Tier, ein Weibchen, war zu erschöpft und starb auf dem Rücktransport von der Greifvogelstation in die Freiheit. In diesem Fall war die Todesursache klar: „innerartliche Auseinandersetzung“, wie es in der Fachsprache heißt. Doch daß ein Mensch Augenzeuge eines solchen Kampfes wird, ist sehr selten. Meist werden die Adler tot aufgefunden.
Ulrich Schneppat, Tierpräparator am Bündner Naturmuseum in Chur, untersucht die Kadaver. Weisen sie Spuren von Kralleneingriffen auf, liegt der Schluß nahe, daß das Tier Opfer eines Kampfes zwischen Artgenossen geworden ist. Nur die mächtigen, zentimeterlangen Krallen eines Adlers sind in der Lage, derart tiefe Wunden in einen Knochen, zum Beispiel ein Brustbein, zu schlagen.
Nun hat in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der aufgefundenen toten Adler mit Verletzungsspuren stark zugenommen. Drei von zehn tot aufgefundenen Adlern waren es von 1930 bis 1969, sechs von neun 1970 bis 1989, 14 von 18 seit 1990. Das ist eine Zunahme, die – bei aller Vorsicht angesichts der Zufälligkeit der Funde – den Schluß erlaubt, daß der „territoriale Streß“ zugenommen hat.
Es sind drei Faktoren, die die Populationsregulation von Steinadlern bestimmen. Eine wesentliche Voraussetzung ist die Territorialität. Die minimale Reviergröße von mehreren Dutzend Quadratkilometern beschränkt die Größe der Steinadlerpopulation. Durch die Verteidigung der Reviere gegenüber Einzelvögeln kann es zu territorialem Streß kommen, der sich auf den Bruterfolg negativ auswirkt. Vor allem die Männchen sind im Frühling oft so stark damit beschäftigt, buhlende Artgenossen zu vertreiben, daß sie ihrer Aufgabe bei der Ablösung des brütenden Weibchens nur noch ungenügend nachkommen. Die Statistik zeigt es: Die Nachwuchsrate – die Anzahl der flüggen Jungen pro Paar und Jahr – liegt im Alpenraum bei 0,5 und kann in besonders bedrängten Revieren auf den Faktor 0,1 absinken. Vor wenigen Jahrzehnten war dagegen fast alljährliches Brüten recht häufig.
Der dritte Faktor: Der Kampf ums Revier hat nicht selten tödliche Folgen. „Das ist ein beträchtlicher Aderlaß“, kommentiert Heinrich Haller. Er geht davon aus, daß – wenn die heute geltenden Schutzbestimmungen aufrechterhalten werden – die Steinadlerpopulation in den Alpen wegen der durch das Sozialverhalten gegebenen Populationsregulation in Zukunft ziemlich konstant bleiben dürfte.
Besonderes hat sich im Alpenvorland ereignet. Dort ist der Adler seit Menschengedenken verschwunden gewesen. Nun kehrt er zurück. Langsam zwar, aber mit Beständigkeit. Aufgrund des Populationsdruckes in den Alpen haben sich bis heute vier Adlerpaare in dieser Region angesiedelt – zwei in den Hügelzonen des Berner Mittellandes, zwei in der Ostschweiz. Die Lebensbedingungen sind dort für Steinadler zwar nicht ideal, aber durchaus ausreichend. Der Bruterfolg ist höher, weil der territoriale Streß wegfällt.
Dennoch ist nicht mit einer starken Zunahme der Adlerpopulation außerhalb der Alpen zu rechnen. Die Ursache liegt im „Heimweh“ der Steinadler. Jungadler können sich als Einzelvögel in riesigen, oft Zehntausende von Quadratkilometern messenden Räumen bewegen. Doch wenn sie geschlechtsreif werden, kehren sie in ihre Heimatregion zurück, wo sie sich auskennen. Der Steinadler hat eine geringe Ausbreitungsdynamik. Doch diese wäre – hätte der Mensch nicht so radikal eingegriffen – eigentlich auch gar nicht nötig. Steinadler leben schon seit Jahrtausenden von der Sahara bis zum Nordkap. Eine katastrophale Sterberate wie zu Zeiten der Verfolgung ist für Steinadler schlicht „nicht vorgesehen“ und angesichts des geringen Fortpflanzungspotentials kaum wettzumachen.
Doch wenn es die Umstände erfordern, sind Steinadler erstaunlich anpassungsfähig. Heinrich Haller nimmt an, daß die Steinadler den nächsten Sprung in früher besiedelte Räume schon bald schaffen könnten: Den über 40 Kilometer von den Hochalpen entfernten Jura und eventuell auch den Schwarzwald. Dort wären die Lebensbedingungen mindestens so gut wie im Alpenvorland. Goldene Zeiten für den Adler also? Haller relativiert: „Die Populationsgröße ist naturgemäß gering. Deshalb müssen wir den Schutz uneingeschränkt aufrechterhalten. Menschliche Regulationsmaßnahmen sind fehl am Platz. Die Adler wissen sich selbst zu helfen. Und wenn wir den Adler in Ruhe lassen sollen, dann gilt das auch für seinen noch weitgehend intakten Lebensraum, die Hochalpen.“
„Gesunde, ausgewachsene Tiere sind eine Portion zu groß für Steinadler. Die fressen sie nur als Aas“
„Menschliche Regulationsmaßnahmen sind fehl am Platz. Die Adler wissen sich selbst zu helfen“
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