: Mit Primakow in die Knesset
Bei den israelischen Wahlen spielen Migranten aus Rußland das Zünglein an der Waage. Beide Präsidentschaftskandidaten buhlen um ihre Gunst ■ Aus Jerusalem Susanne Knaul
Zwei zentrale Wesenzüge markieren das israelische Wahlverhalten: Die Bürger sind eifrige Wähler, und sie bleiben sich selbst treu. Seit 1977 hat sich das kaum verändert. Deshalb wäre das Ergebnis der am kommenden Montag bevorstehenden Wahlen voraussehbar, gäbe es nicht einen Unsicherheitsfaktor: die russischen Immigranten. Die frühen Einwanderer der 80er Jahre miteinbezogen, machen die ehemaligen Russen fast zehn Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung aus. Für die beiden Spitzenkandidaten für das Amt des Premierministers, Benjamin Netanjahu (Likud) und Ehud Barak (Arbeitspartei), liegt hier der Schlüssel zum Erfolg.
„Eigentlich läuft der Laden sonst ganz gut“, sagt Lea, die vor sechs Jahren aus Moskau in die israelische Kleinstadt Aschkelon kam und heute in Andrejs Buchladen russischsprachige Lektüre verkauft. „Wir haben Kinderbücher, Romane, viele Klassiker und eine große Auswahl an Magazinen“, demonstriert die Mittfünzigerin. Zehn aktuelle Zeitschriften hat sie im Angebot. Sie kommen direkt aus Moskau. In dem Geschäft ist das einzige hebräische Schriftwerk ein Wörterbuch.
„Außer uns gibt es noch vier andere russische Buchläden“, sagt Lea. Nicht weniger als fünf russischsprachige Tageszeitungen haben sich in den vergangenen Jahren etabliert. Dazu kommen eigene Magazine und Wochenzeitschriften und das Kabelfernsehen, das die russischen Sender ins Land bringt. Die ehemaligen Russen leben ähnlich wie die Türken in Deutschland: Die Gruppe ist groß genug, um unter sich zu bleiben.
1992 schaffte der Sozialdemokrat Jitzhak Rabin die Wende mit Hilfe der russischen Immigranten, und 1996 waren es erneut die Russen, die eine Wende herbeiführten. Nathan (Anatoli) Scharansky, Chef der Immigrantenpartei Israel Be'Alyia (Israel im Aufstieg), zog einen Bogen zwischen den Bolschewiken und den Regierenden in Israel: „Die selbstzufriedene Väterlichkeit war immer ein leitendes Prinzip in der israelischen Absorptionspolitik.“ Diese Haltung des „Vater weiß es besser“ habe vermutlich seine Ursachen in der klassischen russischen Haltung gegenüber den Regierten – vom Zaren bis zu den Kommunisten. Kaum verwunderlich also, daß die „gebrannten Kinder immer zuallererst gegen die Regierungspartei gestimmt haben“, wie der israelische Wahlanalytiker Chanoch Schmidt beobachtet. Denn: „Für sie war klar, daß, wer das Sagen hatte, automatisch gegen sie arbeitete.“
„Bei unseren Wählern geht es um die persönliche Ehre und ihre gesellschaftliche Integration“, erklärt Roman Bronfman, Nummer drei auf der Liste Israel Be'Aliya. Die zentralen Probleme des Landes, wie Wirtschaftsmisere und hohe Arbeitslosenzahlen, betreffen Immigranten wie „Sabres“ (im Land geborene Israelis) ohne Unterschied. Trotzdem fühlten sich die russischen Immigranten nach zehn Jahren in Israel noch immer nicht dazugehörig. Auf beiden Seiten herrschen Desinteresse und Unverständnis füreinander.
Selbst unter den jungen Leuten geht die Annäherung nur mühsam voran. Die Immigranten-Rockgruppe „Ausweis“ hat nur einen einzigen hebräischen Titel in ihrem Repertoire: „Tod für Schlomo Arzi und Arik Einstein“ – zwei Größen der israelischen Popmusik. Für die Sabres, deren Väter und Großväter einst den Staat aufgebaut haben, ist der Gedanke an eine mögliche Kriegsdienstverweigerung kaum nachvollziehbar. Die jungen Russen hingegen haben Wege gefunden, die Armee zu „umgehen“. Für ihre patriotischen Altersgenossen hegen sie Verachtung. „Die Identifikation mit Jitzhak Rabin nach dessen Tod weckt bei uns Erinnerungen an den Kult, der um Stalin getrieben wurde“, meint Gitarrist Sergej Statchenko.
Die Israel Be'Aliya hätte vor allem „eine psychologische Berechtigung“, erklärt Bronfman. Viele Likud-Politiker hatten die anfänglichen Anstrengungen Scharanskys auf dem Weg zu einer eigenen Partei für die Immigranten gefördert. Die Konservativen hofften, daß Israel Be'Aliya vor allem der Arbeitspartei Stimmen abnehmen würde. Juli Edelstein, die Nummer zwei in Israel Be'Aliya, arbeitete zeitweilig als Berater Benjamin Netanjahus. Vermutlich auf seinen Rat hin ließen sich dieser und Außenminister Ariel Scharon jüngst wiederholt in Moskau vor den Kameras blicken, um das gute Verhältnis zu demonstrieren. Schließlich schafften sie es gar, dem russischen Regierungschef Jewgeni Primakow Sympathie abzuringen. „Wäre ich Israeli, dann würde ich für Netanjahu stimmen“, hatte der erklärt.
Scharansky läßt sich indes vorläufig auf keine klaren Zusagen ein. Er wartet ab, welcher der beiden Premierkandidaten den besseren Preis zu bieten hat. Beide versprechen hohe Posten.
Bei den Wahlen wird noch ein weiterer früherer Berater Netanjahus kandidieren. Der ehemalige Generaldirektor im Premierbüro, Avigdor Liebermann, ist derzeit mit der Kampagne vor allem gegen Scharansky beschäftigt. Ob Liebermann, der den Ruf eines „Rasputins“ genießt und in weiten Teilen der Immigranten sehr beliebt sein soll, Scharansky tatsächlich Paroli bieten wird? Die Buchhändlerin Lea glaubt, nein: „Es ist nicht gut, die Kraft zu vergeuden“, sagt sie. „Liebermann und Scharansky sollten gemeinsam in die Wahlen gehen.“ Und wer soll Premierminister werden? „Bibi Netanjahu natürlich.“
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