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Chinas Dilemma und der Westen

■ Eine Chinesin über die Welle des chinesischen Nationalismus und das Verhältnis zum Westen

Der kollaterale Raketeneinschlag in die chinesische Botschaft in Belgrad wird schwere Konsequenzen haben – im Westen und in China. Westliche Medien berichten von den Demonstrationen im Diplomatenviertel Pekings so, als seien diese selbstverständlich organisiert und gelenkt. Mich überrascht schon nicht mehr die jeweils unterschiedliche politische Instrumentalisierung der chinesischen „Bürger und Studenten“, wofür oder wogegen sie auch immer demonstrieren – und manchmal auch sterben – mögen. Im Westen wird das Auf und Ab des chinesischen Nationalismus und Patriotismus falsch eingeschätzt. Mich regt die Etikettierung „organisiert und gelenkt“ so auf wie die überschäumende Unvernunft der chinesischen Studenten.

Ich rief meine Freundin in Tianjin an, um mich mit ihr auszutauschen. Es war aber nur ihre über 70jährige Mutter zu Hause. Ganz aufgewühlt erzählte sie von einer Versammlung älterer Frauen. „Du, das ist meine Tai-Chi-Gruppe, wir kommen sonst immer ganz ruhig zusammen, aber nun konnten wir einfach nicht mehr gelassen bleiben.“ „Wieso, was ist los?“ „Nun, wir haben Plakate und Transparente gemalt.“ Empört sprudelte es aus ihr heraus: „Gegen die Amerikaner und die Nato. Clinton hat Scheitel und Oberlippenbärtchen wie Hitler bekommen. Heute gehen wir damit auf die Straße und singen unsere Lieder.“ Ich erinnere mich an die Lieder vom Kampf gegen die japanischen Teufel.

„Und wo ist Opa?“ „Der ist seit Stunden fort, er wollte zum Kriegsveteranenverein.“ „Und dort?“ „Er sagte nur: Ich bin zwar schon achtzig Jahre alt, aber Angst haben wir nie gehabt, gegen die Japaner haben wir acht Jahre gekämpft.“ „Und nun?“ „Sie wollen eine Resolution an das Militärkomitee schicken.“

„Aber das mit der Rakete war doch ein Irrtum“, wende ich ein. Nun überschlug sich fast ihre Stimme: „Was, Zufall? Warum gleich drei Raketen? Warum nicht die japanische Botschaft? Und überhaupt: Tony Blair hat seinen Schmerz über den Verlust Hongkongs nicht überwunden, und der Bill Clinton erst! Der soll mal zunächst seine familiären Probleme in Ordnung bringen!“

Ich werde an die konfuzianische Reihung erinnert: Selbsterziehung oder Ausbildung der Persönlichkeit – Ordnung in der Familie – Politik machen oder den Staat ordnen – erst zum Schluß Organisation des Weltfriedens. Ich hatte mich oft mit diesen alten Leuten darüber unterhalten und bin sicher: Oma und Opa sind weder organisiert noch gelenkt. Alte und junge Chinesen befinden sich in einem Dilemma: Zwar sehen sie die Notwendigkeit einer Erneuerung Chinas durch die Inhalte der westlichen Moderne, doch zugleich fühlen sie sich durch deren Methoden und Formen bedroht.

Da sind zum einen die Erfahrungen mit dem westlichen Imperialismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, der die Schwächen des Reiches der Mitte offenlegte, die Chinesen aber auch die häßlichen Kehrseiten des Westens erleben ließ. Zum anderen hängt die Krise des chinesischen Bewußtseins mit drei historischen Belehrungen zusammen, für die es immer wieder Belege in den Handlungsweisen des Westens gibt:

1. Die Diskrepanzen zwischen einer Aufklärung, die aufgrund westlicher kultureller Hegemonie die überkommenen eigenen Traditionen rücksichtslos in Frage stellt, und einer Renaissance des Neokonfuzianismus.

2. Neben den neuen Chancen des wirtschaftlichen Aufstiegs verursacht der Modernisierungsprozeß auch soziale Zusammenbrüche, gegen die es selbst im Westen kein Rezept zu geben scheint.

3. Die Demokratien des Westens kritisieren China immer wieder wegen der Unterdrückung der Menschenrechte und drohen China mit Sanktionen. Wenden diese Demokratien zur Durchsetzung der Menschenrechte selbst Gewalt an, machen sie sich in den Augen der Chinesen unglaubwürdig.

Die Belehrungen des Westens stoßen in China auf einen Mangel an Selbstbewußtsein. Wenn aus westlicher Sicht Modernisierung nicht für diejenigen gilt, die nicht zur westlichen Zivilisation gehören, wenn Modernisierung mit Verwestlichung gleichgesetzt wird, wie können die Chinesen dann einer Entwicklung folgen, die sie in kollektive Bewußtlosigkeit versetzt? Deswegen drückt die Parole „China kann nein sagen“ immer noch eine sehr populäre Stimmung aus.

China schien im Balkankonflikt als ständiges UN-Sicherheitsratsmitglied ausgebootet zu sein. Nun aber haben ironischerweise die Raketen doch Augen. Muß China jetzt nicht stärker an der Beendigung des Jugoslawienkriegs beteiligt werden? Es sitzt wieder mit am Tisch derjenigen, die über neue Weltordnungen entscheiden wollen. Aber die Raketeneinschläge in Belgrad könnten auch liberale Strömungen in China diskreditieren und im nationalistischen Chauvinismus ersticken.

Mao Yihong

Professorin für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften in Peking, lebt zur Zeit in Berlin und unterrichtet an der Universität Jena.

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