Nackte Gewalt ersetzt Intellekt

■ Das Unbehagen der 35- bis 45jährigen vor der nachgewachsenen Jugend: Thomas Heises Heiner-Müller-Adaption „Anatomie Titus Fall of Rome“ im Theater 89 in Marzahn

Ein heruntergekommenes Kulturhaus im Niemandsland zwischen Autobahn und Hochhäusern. Noch früher war das mal die Kantine eines Nazi-Rüstungsbetriebes. Nun also Spielort vom Theater 89, wo Thomas Heise Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome“ inszenierte. Rechts und links sitzen Zuschauer, vor ihnen ein Laufsteg, und um sie herum riecht alles noch nach DDR. „Unser Zuhause“ steht an der Stirnseite des verkommenen Saals, und man ahnt, daß unter dem schwarzen Tuch darüber wohl auch der Name des verblichenen Staates noch immer zu lesen ist. Schon der Weg ins Theater führte weit weg aus der Neuen Mitte in tiefstes Ostgebiet: die Landsberger Allee, die früher Leninallee hieß, herunter, vorbei an alten Plattenbauten und neuen Einkaufszentren raus nach Marzahn.

Dann erklimmt ein Haufen Jugendlicher ein Podest und schüttet aus Müllsäcken verstümmelte Körper aus. Die einzige erwachsene Frau hat bald einen Kindgemahl zur Seite. Danach wird zwei Stunden gemordet und vergewaltigt, Zungen werden herausgerissen, Gliedmaßen abgehackt, Menschen werden aufgefressen. Aus aufgeschlitzten Bäuchen quellen Eingeweide, aus aufgerissenen Mündern quillt Blut. Immer mehr Leiber landen auf der Körperhalde. So will es Shakespeare und so will es Heiner Müller, der hier an Shakespeares fiktivem Feldherrn Titus Andronicus und dem Untergang Roms durch den Einfall der Goten den Einbruch der Dritten Welt in die Erste dialektisch demonstrieren wollte. Doch Text und Handlung sind beinahe Nebensache, die jungen Leute stolpern durch sie hindurch, bleiben manchmal darin hängen, und die ganze aufgequollene Sprache von Heiner Müller wirkt plötzlich schrecklich überaltert. Von Müllers intellektueller Material- und Wörterschlacht bleibt in Heises Inszenierung bloß die nackte Gewalt und die Lust daran übrig.

Titus Andronicus wird vom 14jährigen Thomas Sobkowiak gespielt – ein bulliger Junge, den man sich gut auch als Führer einer Jugendbande vorstellen kann. Sein Sohn Lucius (Stephan May), der später der Führer der Goten wird, kann nicht älter als 11 sein, und die martialischen Texte klingen aus seinem Mund ähnlich hilflos und ungelenk wie rassistische Parolen aus dem Mund eines jungen Neonazis. Alle, Goten wie Römer, sehen ganz aus wie heutige Jugendliche, die Römer schwarz mit modischen Turnschuhen, die Goten mit roten T-Shirts und manchmal mit roten Binden um den Kopf wie Hisbollah-Kämpfer.

Sie morden und werden gemordet, man versteht nicht, warum und wieso. Man möchte Mitleid haben mit diesen Kindern und ist doch abgestoßen von ihren Taten. Und dann handelt der Abend plötzlich von dem Unbehagen der jetzt 35-bis 45jährigen, zu denen ja auch der 1955 geborene Theaterregisseur und Dokumentarfilmer Thomas Heise gehört, vor der nachgewachsenen Jugend, mit deren Gewaltbereitschaft und deren Motiven man ebensowenig anfangen kann wie mit Heiner Müllers intellektueller Materialschlacht. Und deren Motive einem ebenso fremd sind wie die Motive der mordenden Goten und Römer.

Esther Slevogt

Aufführungen 14. 5.–16. 5. und 28. 5.–29. 5. ab 20 Uhr in der ehemaligen Kantine der Fa. Knorr-Bremse Berlin in Marzahn, Landsberger Allee 399