Auf Augenhöhe: Krieg in Berlin
■ Von Katrin Cholotta
Krieg haben wir tatsächlich. Fast einen Steinwurf entfernt, ein paar tausend Kilometer, die man leicht in zwei, drei Flugstunden überbrücken könnte. Zum Glück müssen wir nicht in den Flieger steigen. Das Fernsehen berichtet ja live; jeden Tag. Die farblosen Bilder der Tageszeitungen können wir überblättern und uns sicher auf die Küchentischkante lehnen. Ruhe. Dann gibt es da einige, die demonstrieren. Ein paar hundert Menschen blockieren den ohnehin stockenden Stadtverkehr für ein, zwei Stunden. Transparente gegen Nato-Bomben. Und dann gibt es da noch einen, der liest. „Vom Kriege“ gegen den Krieg. In der winzigen Kreuzberger Kneipe „El Locco“ hat sich Christoph Stein jeden Abend für ein, zwei Kapitel aus dem Buch von Carl von Clausewitz Zeit genommen. Der hagere, ganz in Schwarz gekleidete Mann will so lange lesen, „bis dieser Krieg ein hoffentlich erträgliches Ende“ findet. Das erste Kapitel findet nur wenige Zuhörer. Vielleicht ist die Kneipe zu versteckt. Vielleicht sind es ein, zwei U-Bahn-Stationen zuviel. Vielleicht ist dieser Krieg ja auch nicht wirklich ein Krieg. Jedenfalls scheint er anders als die bisherigen, welche wir in Schulbüchern analysierten. Da gab es Feldherren und Führer, euphorisch verblendete Massen und mutige Partisanen. Wir konnten uns meinungsfest auf eine Seite schlagen; zaghafte Schlichtungen formulieren. Und heute? Es scheint alles so abstrakt. Da ist von „intelligenten Bomben die Rede“, zielsicher genug, um „zivile Opfer“ zu vermeiden: unabsichtlich dann aber doch die chinesische Botschaft treffend.
Die kleine Schreibtischlampe erhellt das erste Blatt des siebenhundert Seiten dicken Buches. Gemütlich zündet sich Stein eine Zigarette an und beginnt über „die Natur des Krieges“ zu lesen. Seine laute Stimme hallt durch das leere Cafe. Die kleine Lampe scheint den ausgestoßenen Zigarettenrauch aufzusaugen, während kriegerische Worte aus seinem Mund sprudeln. Da ist genau von jenen Feldherren die Rede, von Kriegskunst und politischen Absichten. Vertraute Historie contra Fernsehrealität. Der einzige Zuhörer im rotkarierten Hemd nickt bedächtlich. Er scheint das Buch zu kennen, murmelt was von kindlicher Nato-Kommission, welche gut daran täte, von Clausewitz einmal selbst zu lesen, anstatt mit vermeintlich klaren Strategien im Sandkasten zu sitzen.
Unterdessen sitzen im Olympiastadion zehntausend Besucher beim Militärfestival und lauschen dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen. Über ihnen fliegen Transall-Maschinen. Zur Feier des Endes von Blockade und Luftbrücke.
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