: Rückzug aus Memphis
Geschlagen zieht die Gegenkultur nach Haus, meint Poptheoretiker Diedrich Diederichsen. Sein jüngstes Buch „Der lange Weg nach Mitte“ ist ein Abgesang auf die Popmusik als gesellschaftsverändernde Kraft. Im neuen Berlin soll alles zu Ende gegangen sein ■ Von Thomas Groß
Das Predigen ist auch nicht leichter geworden. „Love & Respect. Ihr wißt, wer ihr seid“, grüßte Diedrich Diederichsen die Gemeinde dereinst nach Art eines Volksmissionars. Jung waren die Neunziger, und noch immer gab es kaum mehr zu verlieren als die alten Heldenposen des Rock. So schien das damals, zu Beginn eines Jahrzehnts, in dem alles anders wurde.
Inzwischen sieht der Mann, den sie Pop-Papst nannten, nicht nur den alten Rock 'n' Roll als überholt an, die Kultgemeinde selbst ist ihm abhanden gekommen. Vom „Verschwinden gemeinsamer Horizonte“ handelt sein jüngstes Buch, einem Verlust der Evidenzen und Kollektiverweckungen, wie sie die Popkultur über Jahrzehnte hinweg stiftete. Längst macht die richtige Mode, Droge oder Musik keinen Revoluzzer mehr, zu oft wurde alles schon recycelt. Diederichsen diagnostiziert dem Pop der Neunziger einen Milieuschaden: Die Vervielfältigung der Szenen und Genres habe zugleich eine Aufsplitterung in sektenartige Gebilde mit sich gebracht, die seltsam betriebsblind vor sich hin wirtschaften.
Schon richtig: Den „Soundtrack einer Epoche“ gibt es nicht mehr. Drum 'n' Bass, einst als Klang der Zukunft gehandelt, ist bereits wieder Schnee von gestern. Wo bis vor kurzem wenigstens noch der Kampf gegen den Mainstream die auseinanderdriftenden Subkulturen einte, machen heute Techno-Visionäre, HipHop-Häretiker und elektronische Fundamentalisten gleichermaßen Ansprüche auf die wahre Lehre geltend, während deren Halbwertszeit zugleich gegen Null geht.
In vielem ähnelt der Zerfall des Popuniversums der Rückkehr der Stämme in der politischen Welt. Diederichsen resümiert eine Entwicklung, die unter den Stichworten „Diversifizierung“ und „Tribalisierung“ die Diskussionen der letzten Jahre, der Zeit nach der großen Blockerweichung bestimmt hat, gibt ihr aber einen neuen Drall. „Der lange Weg nach Mitte“ heißt seine Textsammlung, Untertitel „Der Sound und die Stadt“. Berlin-Mitte, der Stadtteil der Hauptstadt, durch den einst die Mauer ging, wo heute der Potsdamer Platz aufragt und Jungkunstgalerien urbanen Chic verbreiten, erscheint ihm darin als „schwarzes Loch“, das alles Widerständige ansaugt und neutralisiert. Die Stadt, traditionell der Ort, der die Popmusik hervorgebracht hat, soll auch der Ort sein, der sie wieder verschlingt.
Soviel Ende auf einen Schlag? „Der lange Weg nach Mitte“ ist, je nach Blinkwinkel, ein komplexes oder auch zerfahrenes Buch. Diederichsen sieht (mit einem Songtitel der Mekons) den Rückzug aus Memphis im Gange, der Königsstadt, die Elvis Presley groß gemacht hat. Erstmals ergibt das Prinzip, Vorträge, Plattenkritiken, Texte für Periodika und Tageszeitungen zu einer Zeitabschnittsdiagnose zusammenzustellen, kein organisierendes Zentrum, keinen Leitsound oder Kampfbegriff mehr. In „Freiheit macht arm“ (1993), dem „Leben nach Rock.'n' Roll“ gewidmet, war dies HipHop gewesen, vom Autor zum „Master Narrative unserer Epoche“ erklärt. In „Politische Korrekturen“ (1996) rehabilitierte er immerhin noch den vermeintlichen Tugendterror der vielgeschmähten Political Correctness als Strategie, konkrete Einwände gegen konkrete Mißstände zur Sprache zu bringen.
Jetzt dominiert der uncoole Aspekt der Trauerarbeit, angereichert um Spurenelemente post-stalinistischer Manöverkritik. Asche aufs Theoretikerhaupt! Von einer „bornierten Selbstsicherheit des Besserwissens“ ist die Rede, der „die Komplexität realer Machtverhältnisse und Zwänge“ entgangen sei. Diederichsen blickt zurück in die Sechziger, das Heldenzeitalter des Pop, als die Gegenkulturen noch für den Versuch eines Umbaus der Gesellschaft standen. Er dreht das „Popmolekül“ mehrmals um seine eigene Achse, erörtert voltenreich Seiten- und Unteraspekte, springt von dort in die Gegenwart zurück, wo die Lust am Finalen im letzten Moment stets vor ihrer eigenen Konsequenz zurückzuckt. Noch soll es nämlich ein Nadelöhr geben, durch das Hilfe naht: „Heuristik“ heißt das Zauberwort.
Heuristik ist das, was von Pop als Kritik und Existenzweise bleibt, wenn der konkrete Gegenstand sich entleert hat. Wortgeschichtlich geht der Begriff auf Archimedes zurück, der „heureka!“ gerufen haben soll, nachdem er das hydrostatische Grundgesetz, das Prinzip des Auftriebs, entdeckt hatte. Durchaus in diesem Sinne faßt Diederichsen heuristisches Vorgehen – das Bilden von Arbeitshypothesen und –bündnissen – als letzten Joker der popinteressierten Boheme: Wenn Denken wie Empfinden flexibel bleiben, wenn weder der Faszinationsaspekt von Pop theoretisch unterschlagen noch umgekehrt Theorie unterm Stroboskop weggeravet wird, sind gewisse Aussichten auf einen Realismus jenseits der Sekten gegeben. Auch der Hedonismus erhält eine letzte Chance, denn „es macht mehr Spaß, in diesem Geflecht zu unterscheiden, zu kritisieren und zu entwickeln, als sich damit abzufinden, daß wir in finsteren Zeiten leben“.
Passagen wie diese illustrieren, wie stark Diederichsen vom Pathos einer „rettenden Kritik“ zehrt, zu finden bei den spätmarxistischen, an der reinen Lehre bereits irre gewordenen Klassikern. Erkennen Sie die Melodie? Es kommt darauf an, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht blind machen zu lassen – so hat es Adorno formuliert, der – trotz oder wegen seiner Popfeindschaft – als Gewährsmann wieder nähergerückt ist. Für Walter Benjamin, an den einige Credits gehen, war das Utopische an Mode, Architektur, Phänomenen der Straße ihr Traumcharakter: Neues, das sich selbst nicht versteht und deshalb gelesen werden muß, schon um der Melancholie der ewigen Wiederkehr zu entkommen.
Diederichsen greift dieses halbverschollene Wissen in einer Art Volksausgabe auf, mixt es mit neueren Theoriesamples, „französischem“ Denken und seiner Lieblingsidee: der urbanen Boheme als Sachwalterin eines besseren Lebens. Die Jungen, die Schönen, die Elenden und die Erlebenden – doch nicht vollends für die gute Sache verloren? Unter beeindrukkendem Sprach- und Analyseaufwand dreht sich sein Text immer wieder um diesen Punkt, teilt nach links wie rechts aus, geißelt die Kleingläubigen und Philister, geißelt ein wenig auch sich selbst.
Die Analysen sind scharfsinnig, wo sie sich Zeit und Raum für einzelnes nehmen. Ganz kann der Gestus des letzten Aufrechten unter den Popdeutern einen autoritären Kern trotzdem nicht leugnen. Von „Spähtruppen des Glücks“ ist die Rede, von „mobilisierbaren Einheiten“, die an diese oder jene Front verschickt werden können. Im Volksmissionar schlummert eben doch noch ein kleiner Diktator, die Rhetorik offenbart dies mehr als die Attitude. Im Geiste sieht Diederichsen sich nach wie vor auf dem Feldherrnhügel, zu Füßen die Popkultur: eine Manövriermasse, mit der sich strategisch Lego spielen läßt.
Das Denken in Strategemen, in Modellen von Spionage und Gegenspionage ist die Theoriehaut, aus der Diederichsen nicht herauskommt – selbst wenn sie ihm bei der Analyse der urbanen Gegenwart eher hinderlich ist. „Die Straße ist die klassische Korrektur von Abstraktheit und Weltferne“, schreibt er, wird aber im Hinblick auf Berlin-Mitte, den Ort, wo alles zu Ende gegangen sein soll, kaum je konkret. Der Macher von Zeitgeistausstellungen, der pfiffige Jungunternehmer mit Party-Geschäftssinn, Christoph Schlingensief, der letzte Kinderstar des Theaters – sie alle geistern als großstädtische Physiognomien und Phänotypen der Stunde durch den Text, sind aber stets nur herbeizitierte Belege für die drohende Niederlage der Popkultur in ihrem letzten Gefecht.
Der Endkampf um die Hauptstadt, die trügerisch glänzende – von dieser biblisch-eschatologischen Figur hat Diederichsens Text mehr, als seine komplexe Struktur glauben macht. Berlin ist das verlassene Memphis, aber auch Jericho, das mit Pauken und Trompeten bestürmt sein will. Ein klein wenig ist es auch Hure Babylon. Die Stadt, liest er selbst am Beispiel Frank Sinatras, kann einen Mann machen oder brechen. Gut möglich, daß sie sich sämtlichen Werbungsversuchen gegenüber gleichgültig zeigt, die „tendenzielle Entmachtung des Interpretationsmonopols“, die Diederichsen in der Vielstimmigkeit der Gegenwart beklagt, eine dauerhafte ist. Auch wegen solcher Untertöne verhält sein Blick auf Berlin-Mitte sich – während er Großdeutschland am Horizont heraufdämmern sieht – spiegelbildlich zum Horror der Abgeordneten, die demnächst herziehen müssen. Im Hintergrund des Gemäldes droht die Übermetropole, die alles, was Poptheoretiker so aushecken, in sich zurücknimmt.
Das „schwarze Loch“ – man kann es zuletzt auch als Ausdruck von Milleniums-Angstlust lesen. „Die 90er und dahinter die Unendlichkeit“ heißt das Abschlußkapitel. Was in wenigen Monaten sein wird, weiß heute noch keiner, nicht einmal der schlaue Diedrich. Man darf freilich schon mal ein wenig in die Sterne gucken, mitstricken an der säkularen Erwartung einer Zeit der Entscheidung, die der Sampling-Artist Tricky in einen Plattentitel gefaßt hat: „Pre-Millenium Tension“. Am Ende des Jahrtausends steht das System Pop auf dem Prüfstand. Ob es wirklich um das Ende des Pop ging oder doch nur um eine Krise seiner Interpreten, läßt sich 2001 dann immer noch klären.
Diedrich Diederichsen: „Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt“. KiWi, 311 Seiten, 19,80 DM.
Berlin-Mitte erscheint als ein „schwarzes Loch“, das alles Widerständige ansaugt und neutralisiert
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