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Boris Jelzin läßt die Premierminister tanzen

Rußlands Präsident entläßt seinen Regierungschef Jewgeni Primakow. Der verfolgte zu sehr seinen eigenen Kurs. Reformen sind von seinem Nachfolger Sergej Stepaschin nicht zu erwarten  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Entlassung Premierminister Jewgeni Primakows traf Moskaus politische Elite nicht aus heiterem Himmel. Dafür hatte Kremlchef Boris Jelzin in den letzten Wochen Regierung und Opposition in der Duma allzu deutlich auf das drohende Ende vorbereitet. Nach den Maifeiertagen schlug der Präsident vorgestern zu: „Ich habe heute eine schwierige Entscheidung getroffen und Regierungschef Jewgeni Primakow von seinen Pflichten entbunden“, ließ Jelzin verbreiten. Knapp und schnörkellos dankte er dem 69jährigen Regierungschef dafür, das Land durch eine bedrohliche Krise geführt zu haben. Dann ging der kränkelnde Patriarch zur Kritik über. Die Frage der wirtschaftlichen Strategie sei heute genauso ungeklärt wie vor neun Monaten, reklamierte Jelzin. Sie dulde nicht noch einmal einen Aufschub bis zu den Dumawahlen in einem halben Jahr.

Die Nachfolge Primakows tritt der bisherige Vizepremier Sergej Stepaschin an. Als Innenminister befehligt der langjährige Gefolgsmann des Kremlherrn – und einer der verantwortlichen Falken für den blutigen Tschetschenienfeldzug 1994 – über Hunderttausende von Spezialeinheiten des Innenministeriums und mehr als eine Million Polizisten.

Sich des Rückhalts der sogenannten „Kraftministerien“ zu vergewissern, war wohl einer der Gründe Jelzins, Stepaschin zum Regierungschef zu ernennen. Denn Moskau steuert einer ernsten Verfassungskrise entgegen. Die von den Kommunisten dominierte Duma dürfte Jelzins Wunschkandidaten kaum im Amt bestätigen, wie es das Verfassungsregelement vorsieht. Das Kabinett Primakow genoß nicht nur das Vertrauen der Kommunisten, ihm gehörten auch kommunistische Minister an, die mit der Auswechslung des Premiers ihre Posten verlieren. Sollte die Duma der Kandidatur Sergej Stepaschins auch im dritten Wahlgang nicht zustimmen, muß der Präsident das Parlament auflösen und Neuwahlen innerhalb von drei Monaten ausschreiben. Das sieht zumindest Rußlands Grundgesetz vor. Im September hatte die Duma zum ersten Mal dem Präsidenten die Stirn geboten und dessen Wunschpremier Wiktor Tschernomyrdin nicht gewählt. So gelangte der damalige Außenminister Primakow überhaupt erst als Kompromißfigur auf den Premierssessel. Alle Fraktionen der Duma trugen die Entscheidung damals mit.

Die jetzige Lage ist jedoch um einiges komplizierter. Die Opposition nimmt heute im Parlament das seit fast einem Jahr vorbereitete Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin auf. Am Sonnabend soll die Legislative entscheiden, ob der Präsident in drei Anklagepunkten gegen die Verfassung verstoßen habe. Es gilt als ziemlich sicher, daß die Duma mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit den Kremlchef zumindest in puncto Tschetschenienkrieg des Verfassungsbruchs für schuldig befindet. Danach darf der Präsident bis zur Entscheidung des Obersten Gerichts die Duma nicht auflösen. Die höchstrichterliche Instanz dürfte dem Votum des Parlaments kaum folgen. Jelzin bliebe auch weiterhin im Amt. Regierungschef Stepaschin und sein neues Kabinett könnten nur kommissarisch die Amtsgeschäfte leiten.

Jelzins Kritik an der Regierung Primakow ist berechtigt. Aus Rücksicht auf lobbyistische Interessen hat sie längst überfällige Maßnahmen verschleppt. Weder machte sie sich daran, nach dem Rubelsturz im August das Bankwesen zu reformieren, noch beglich der Staat seine angehäuften Lohnschulden. Primakow nutzte auch seine guten Beziehungen zur Duma nicht, um das längst überfällige Bankrottgesetz durch die Legislative zu bringen. Statt dessen entfachte der Nahost-Experte einen Kleinkrieg zwischen einzelnen Fraktionen der Moskauer Elite unter dem Deckmantel „Antikorruptionsmaßnahmen“. Nur sind Ankläger und Beschuldigte, egal zu welcher Kohorte sie sich zählen, alle gleichermaßen korrupt und parasitär. Primakows Mannschaft nahm sich davon nicht aus. Bereits nach wenigen Wochen im Amt wurden stichhaltige Korruptionsvorwürfe gegen die kommunistischen Vizepremiers Masljukow und Kulik laut, die wie üblich im Sande verliefen. Überdies steuerte das Kabinett einen außenpolitischen Kurs, der durch antiwestliche Propaganda an die Zeiten des Kalten Krieges erinnerte. Primakows Entlassung bedeutet aus westlicher Sicht keine Katastrophe.

Jelzin hat den Regierungschef indes nicht wegen der offensichtlichen Mängel in der Politikgestaltung aus dem Amt gedrängt. Den Kremlzaren bewegen inzwischen ausschließlich egoistische und machtpolitische Erwägungen. Der eifersüchtige Throninhaber konnte nicht ertragen, wie das Sowjetfossil Primakow ungeniert nach dem Zarenzepter schielte. Bei den Wählern genoß der stille Brüter Primakow bald nach Amtsantritt weit mehr Sympathie als Präsident Jelzin. Die überwiegende Mehrheit der Bürger verurteilte daher in Meinungsumfragen gestern die Entlassung des Premiers.

Es wäre falsch, jetzt einen neuen Reformschub zu erwarten. Rußlands Antriebskräfte sind erschöpft, und die Elite ist damit beschäftigt, ihre Pfründe zu sichern. Nichts demonstriert das sinnfälliger als die Ernennung Nikolai Aksjonenkos zum zweiten Mann nach Stepaschin im Staate. Der ehemalige Eisenbahnminister zählt zu den engen Vertrauten Boris Beresowskis. Der Industriemagnat, aus dem Kreis der legendären sieben Oligarchen, die während der Präsidentschaftswahlen 1996 von sich behaupteten, die eigentlichen Steuermänner zu sein, ist zurück im Boot.

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