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Wenn die Brücke kommt...

Arnavutköy gilt als einer der schönsten Flecken Istanbuls. Das frühere Dorf inmitten der Fünfzehnmillionenmetropole sieht freilich düsteren Zeiten entgegen. Sollten nämlich die Pläne zu einer dritten Querung des Bosporus Realität werden, muß Arnavutköy weichen  ■ Von Jürgen Gottschlich

Das Haus liegt am Hang, mitten in der Altstadt. Ein schönes Eingangsportal, darüber der klassische Erker, eine weiß gestrichene Holzfassade. Tatsächlich handelt es sich nicht nur um holzverschalten Beton, das Schmuckstück ist wirklich gut 120 Jahre alt. „Wir gehörten zu den ersten hier in Arnavutköy, die eines der alten osmanischen Holzhäuser restauriert haben, erzählt Özden Danisman. „Außer einer Heizung, die neu eingebaut wurde, haben wir nichts verändert.“

Mittlerweile hat ihr Beispiel Schule gemacht. Fast jedes zweite Haus ist mit viel Eigenarbeit restauriert worden, das wiederhergestellte Arnavutköy wurde zu einem der schönsten und beliebtesten Plätze am Bosporus – Künstler, Journalisten, Professoren der nahegelegenen Bogaze-Universität und andere young urban citizens haben Arnavutköy vor dem Verfall gerettet. Das frühere Dorf am Bosporus, heute an der Peripherie der Istanbuler Innenstadt gelegen, ist einer der größten zusammenhängenden Komplexe alter osmanischer Holzhäuser in der ganzen Türkei. „Eine Perle“, sagt Ismail Üstün, „die unter dem Schutz des Kulturministeriums steht und von der Unesco in die Liste der zu schützenden Stadtlandschaften aufgenommen werden soll.“

Wenn es dazu noch kommt. Arnavutköy droht der Tod durch Abriß. Özden und Ismail zeigen vom Bosporusufer auf die Straßenzüge, die es treffen soll. Fast die Hälfte aller Häuser kommt unter den Bulldozer. Bis oben auf den Berg. „Ein paar Meter vor unserem Haus wird dann ein riesiger Pfeiler stehen, dazu sechs bis sieben Jahre Bauzeit. Wenn die Brücke kommt, ist Arnavutköy tot.“

Es ist 18 Uhr an einem Tag im Mai. Die Abendsonne spiegelt sich im Bosporus, das Licht ist jetzt besonders schön. „Scheiße, wir sind zu spät.“ Verärgert zeigt der Taxifahrer auf den Stau, der sich vor der Autobahnauffahrt Richtung Bosporusbrücke gebildet hat. Es ist klar, daß wir rund zwei Stunden festsitzen werden. Vor einer halben Stunde wären wir vielleicht noch durchgekommen, jetzt hilft nur noch Ruhe bewahren.

Wer das erste Mal in der Rush-hour Istanbuls versucht, mit dem Auto von Europa nach Asien zu fahren, wird selbst den Stau noch genießen können. Der Blick ins Tal, die kilometerlange, filigrane Brücke, die osmanischen Paläste am Ufer, das ganze Panorama lohnt schon einen längeren Blick.

Dritte Möglichkeit: kombinierter Bahn-und-S-Bahn-Tunnel

Wer allerdings regelmäßig hier steckenbleibt und weiß, daß es zwanzig Kilometer am Bosporus aufwärts, an der Auffahrt zur zweiten Brücke genauso aussieht, dem leuchtet unmittelbar ein: Hier muß eine dritte Brücke her. Wie sonst soll der ständig wachsende Verkehr des Molochs Istanbul noch bewältigt werden?

„Hier bestimmt der Schein das Bewußtsein“, sagt Korhan Gümüs lächelnd, „die Realität des Istanbuler Verkehrs erfordert andere Maßnahmen.“ Im Büro des Architekten und Stadtplaners liegen Pläne im Dutzend, auf denen Alternativen zu einer dritten Brücke skizziert sind. Korhan Gümüs gehört zu den vielen Leuten in Istanbul, die sich gegen den Bau einer dritten Bosporusbrücke engagieren, auch wenn sie nicht in Arnavutköy wohnen. Er hat schon vor Jahren einen „Verein humane Stadt“ mitgegründet, der sich an vielen Stellen darum bemüht, historische Bausubstanz zu retten oder neue Autoschneisen zu verhindern.

„Istanbul“, sagt Korhan, „ist eine Stadt am Meer. Warum werden nicht mehr Fähren, Wassertaxis und andere Schiffe eingesetzt?“ Die Transportarbeitergewerkschaft hat ein Gutachten anfertigen lassen, in dem aufgezeigt wird, daß schon durch die Neueinstellung von Fähren, die nur einen Bruchteil einer dritten Bosporusbrücke kosten würden, die Anzahl der Menschen, die jeden Tag den Kontinent wechseln (rund eine Million), bewältigt werden könnte. Dritte Möglichkeit: „Der Staat plant auch einen Tunnel. Einen Bahn-und-S-Bahn-Tunnel. Das würde erheblich mehr bringen.

Tatsächlich sprechen die Zahlen entschieden für einen Tunnel. Der könnte von der Transportkapazität sieben Brükken ersetzen. Außerdem soll mit dem Bau des Tunnels das marode S-Bahn-System erneuert und mit dem Tunnel als Verbindungsstück unter dem Bosporus eine durchgehende Schienenverbindung von den westlichen Vororten bis zum östlichsten Zipfel geschaffen werden – eine Distanz von mehr als hundert Kilometern, die bequem und umweltfreundlich überwunden werden könnte.

Nach den bisherigen Plänen würde das Tunnelprojekt rund 1,4 Millarden Dollar, die Brücke aber nur die Hälfte kosten. „Das sind jedoch nur die reinen Kosten für die Brücke“, erläutert Korhan die Zahlen, „mit den dazugehörigen Anbindungskosten neuer Autobahnen und den Stadtvierteln, die dafür abgerissen werden müßten, kämen noch einmal 400 Millionen Dollar dazu.“ Angesichts der großen Vorteile des Tunnels macht die Brükke überhaupt keinen Sinn. Der Tunnel hat in den Augen der mächtigsten Industrieholdings der Türkei allerdings einen entscheidenden Nachteil: Kein Auto kann ihn passieren. Dagegen gehen die Planer davon aus, daß eine dritte Brücke stündlich von rund 10.000 Autos überquert würde, was der Autoindustrie einen neuen Schub geben würde.

Der gesamte Ort ist bereit, sich gegen die Brücke zu engagieren

Das ist offenbar der Hauptgrund, warum die entscheidenden staatlichen Stellen eher eine Brücke wollen. Für die Stadt Istanbul eine Zumutung. Istanbuls Oberbürgermeister Ali Müftü Gürtuner, Mitglied der islamischen Fazilet-Partei, wehrt sich tapfer gegen die Bevormundung von oben. Als die Bürgerinitiative von Arnavutköy Anfang des Jahres ihre Kampagne gegen die Brücke mit einer Kundgebung vor Ort startete, erschien er persönlich und versicherte, er werde sich für den Bau des Tunnels stark machen. Doch letztlich mußte er zugeben, daß der Oberbürgermeister bei einer so existentiell wichtigen Entscheidung für die Stadt nichts zu melden hat. Im türkischen Zentralstaat entscheiden die Ministerien in Ankara.

In diesem Fall betreibt das Verkehrsministerium das Tunnelprojekt und das Bauministerium die dritte Brücke. Da das Verkehrsministerium aber nur über den Schienenverkehr, das Bauministerium dagegen über alle Autobahnen und Fernstraßen entscheidet, hat eigentlich der Bauminister beim Verkehr das Sagen. Nur noch fünf Prozent werden über die Schiene abgewickelt. „Systematisch“, sagt Ismail Üstün, „hat man in der Türkei den Schienenverkehr zugunsten des Autos ruiniert.“

So wie die Bürgerinitiative in Lüchow-Dannenberg über die Jahre zu einer Expertenrunde in Sachen Atomenergie geworden ist, haben die Leute von Arnavutköy angefangen, sich mit der Verkehrspolitik insgesamt auseinanderzusetzen. Ismail hat die Zahlen parat, um wieviel Prozent der Autoverkauf in Istanbul nach dem Bau der ersten Brücke 1973 und dann noch einmal nach dem Bau der zweiten Brücke 1988 gestiegen ist: „Um das zehnfache. Wenn man bedenkt, daß in Istanbul rund ein Drittel der Kaufkraft der gesamten Türkei versammelt ist, kann man sich vorstellen, daß das für die Autoindustrie keine Peanuts sind.“

Im Rückblick wird man im Bauministerium in Ankara vielleicht zu dem Schluß kommen, daß Arnavutköy als europäischer Brückenfuß doch eine schlechte Wahl war. Nicht, weil sich eine späte Einsicht für den Erhalt der historischen Bausubstanz durchgesetzt hätte, sondern weil die scheinbar allmächtige Staatsbürokratie feststellen muß, daß sie in Arnavutköy auf die falschen Leute gestoßen ist. Der gesamte Ort ist bereit, sich gegen die Brücke zu engagieren. In jedem Laden, in jedem Imbiß hängen die Plakate der Bürgerinitiative, der örtliche Muchtar, wiewohl formal machtlos, hat sein Amt ganz in den Dienst der Bürgerinitiative gestellt. Sein Büro ist die Anlaufstelle und Kommunikationszentrale. Ungefähr 25 Leute, so Ismail, bilden den Kern der Bürgerinitiative. Zusammenschlüsse dieser Art sind in der Türkei noch eine relative neue Erscheinung, Vorboten der kommenden Zivilgesellschft.

Das Vorbild für die Bürgerinitiative von Arnavutköy ist die Ägäisstadt Bergama, wo eine Volksbewegung dafür gesorgt hat, daß ein landschaftszerstörender Goldabbau verboten wurde. Ging es dort noch um ein klar umgrenztes lokales Projekt, wird im Kampf um die dritte Brücke über den Bosporus die ganze Arroganz staatlicher Entscheidungsfindung in Frage gestellt. Dabei kann die Bürgerinitiative auf etliche Symphatisanten in den Medien zählen. Deren Öffentlichkeitsarbeit war immerhin so erfolgreich, daß sich der zuständige Minister genötigt sah, Arnavutköy einen Besuch abzustatten.

„Für die Türkei“, freut sich Arif Akdag von der Bürgerinitiative, „ist das eine Sensation.“ Leider wollte sich der Vorsteher der Straßenbaubürokratie nicht zu einer Stellungnahme im Sinne der Bürgerinitiative hinreißen lassen. Bislang hat sich lediglich der Verkehrsminister in die Unterschriftenliste gegen die dritte Brükke eingetragen.

Jürgen Gottschlich 44, ist Türkeikorrespondent der taz. Er lebt in Istanbul und Berlin

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