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Wie mit Zahlen Politik gemacht wird

Unter der Regierung Helmut Kohl war es ein liebgewonnenes Ritual. Alljährlich zur Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik warnten die jeweiligen Innenminister vor dem unaufhaltsamen Vormarsch des Verbrechens. Mal waren es gewaltbereite Jugendliche, mal Ausländer, mal linke Chaoten und mal das Organisierte Verbrechen, die die Innere Sicherheit des Landes gefährdeten. Und in der Regel wußten die Politiker auch, was zu tun war: Wir brauchen mehr. Mehr Polizisten, mehr und härtere Strafen, mehr eue Gsetze. Zum Beispiel das Geldwäschegesetz von 1993, die Kronzeugenregelung von 1994, das Korruptionsbekämpfungsgesetz, den Lauschangriff, verdachtsunabhängige Personenkontrollen ...16 Jahre lang hat die Christenunion die Debatte um die Innere Sicherheit bestimmt, mit der Verbrechensfurcht der Bürger gespielt. Nichts eignete sich besser zur Instrumentalisierung als die Entwicklung der Kriminalität. Es ist eben einfacher, sich als markiger ordnungspolitischer Hardliner zu präsentieren, denn Lösungn für die dängenden sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme anzubieten. Es ist allemal populärer, über den Werteverlust der Jugend zu räsonnieren, als ihr eine berechenbare Perspektive des beruflichen Einstiegs zu bieten. In diesem Jahr wird das Zahlenwerk der PKS erstmals unter der Federführung einer rot-grünen Regierung präsentiert. Welche Schlüsse wird Bundesinnenminister Otto Schily für uns daraus ziehen?  ■ Von Eberhard Seidel

Die Verbrechensuhr tickt. Alle 1,5 Minuten eine Körperverletzung; alle drei Minuten ein Wohnungseinbruch; alle zehn Minuten eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung; alle sieben Minuten ein Raub; jede Stunde eine Schießerei. Und im Zweieinhalb- Stunden-Takt werden Menschen getötet. Kein Wunder, daß drei Viertel aller Deutschen ihre eigene Sicherheit auf Straßen und Plätzen bedroht sehen. Ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) scheint die Ängste der Bundesbürger zu rechtfertigen. Die Zahl der erfaßten Kriminalitätsfälle in der Altbundesrepublik (einschließlich Berlin) stieg zwischen 1975 und 1997 von 2.919.390 auf 5.255.253. In Gesamtdeutschland wurden 1997 6.586.165 Straftaten registriert.

Die personelle Aufstockung der Polizeivollzugsbeamten, das wachsende Heer der privaten Detektive, der Wach- und Werkschutzleute, die stetige Aufrüstung des Apparates mit modernsten Kommunikationssystemen, die Vernetzung der Datenträger und die verbesserten Ermittlungsmöglichkeiten konnten den Trend nicht aufhalten. Entfielen 1955 auf 100.000 Einwohner noch 3.018 Straftaten, waren es 1997 bereits 8.031. Die Zahlen schaffen Legitimationsdruck. Keine Partei kann sich an dem Thema „Innere Sicherheit“ vorbeimogeln. Und selbst die Bündnisgrünen, die das Thema über Jahre nur mit der Kneifzange anfaßten, versichern inzwischen: Wir nehmen die Sorgen und Nöte der Menschen sehr ernst. Denn sie wissen: Der Wähler bestraft den, der mangelnden Willen zum Durchgreifen erkennen läßt. Spätestens mit Winston Churchill gilt aber auch, daß wir nur der Statistik trauen sollten, die wir selbst gefälscht haben. Tatsächlich eignet sich die Polizeiliche Kriminalstatistik für Bedrohungsszenarien jeglicher Art. Erschreckende Zunahme der „Ausländerkriminalität“? Gewaltbereite Jugendliche? Grassierender Mord und Totschlag? Dramatische Sicherheitsdefizite auf öffentlichen Straßen und Plätzen? Bedrohte Privatsphäre? Mordende Kinder? – Kein Problem! Wie bei jeder Statistik kommt es nur auf die „richtige“, sprich: die dem eigenen Anliegen dienende Leseweise und Interpretation an.

Zwei Beispiele vom 14. April: „Die angebliche positive Kriminalitätsentwicklung in diesem Jahr beruht vor allem darauf, daß der Polizei wegen des Personalabbaus immer weniger Straftaten bekannt werden“, erklärte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft im Beamtenbund, Gerhard Vogler. Er reagierte damit auf den Rückgang der Gesamtkriminalität seit 1995 und warnte die Bürger, sich nicht täuschen zu lassen.

Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, dagegen überraschte die Öffentlichkeit am gleichen Tag mit einer anderen Erkenntnis. „Langzeitstudien belegen, daß in den Städten über die Jahrhunderte das Risiko drastisch abgenommen hat, getötet zu werden. Das Gewaltrisiko ist gesunken, kurz: Die Gesellschaft ist über die Jahre hinweg insgesamt ziviler geworden.“ Auch Pfeiffer liefert eine Erklärung für die erfreuliche Entwicklung: „Die Langzeittendenz hängt von der Rolle der Frau ab und davon, inwieweit sie ihren pazifistischen Einfluß geltend machen kann. Je gleichrangiger die Frau, desto zivilisierter ist die Gesellschaft.“

Wer hat nun recht? Vogler oder Pfeiffer? Ist das Glas halb voll oder bereits halb leer? Wie jede Statistik hat auch die Polizeiliche Kriminalstatistik ihre Tücken und liefert nur ein sehr verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Sie ist, was häufig vergessen wird, keine Täter-, sondern eine Tatverdächtigenstatistik und dokumentiert die bei der Polizei angezeigten Fälle und die von ihr ermittelten Tatverdächtigen. Und da in der Bundesrepublik nur rund ein Zehntel der Anzeigen von Amts wegen erfolgt, ist „Kriminalität“ zu Beginn ihrer institutionellen Bearbeitung im wesentlichen das, was Geschädigte oder Dritte als solches betrachten und der Polizei mitteilen. Ob eine von einem Opfer als Gewaltkriminalität empfundene Handlung, die allein durch eine Anzeige in der PKS auftaucht, letztlich durch ein Gericht als solche bestätigt wird, ist eine ganz andere Sache. Um sich ein umfassendes Bild von der Gewalt- und Kriminalitätsentwicklung zu machen, müßten neben der Polizeilichen Kriminalstatistik die Strafverfolgungsstatistik, Bewährungshilfestatistik, Verurteiltenstatistik, die Rückfallstatistik und Opferbefragungen als Grundlage mit einbezogen werden.

Machen wir die Probleme der PKS am Beispiel Jugendgewalt deutlich. Seit Jahren gilt es als ausgemachte Tatsache, daß Gewaltkriminalität unter Jugendlichen zunimmt, die Täter immer jünger werden, häufiger Waffen einsetzen und mit immer größerer Brutalität vorgehen. Was lehren uns die Daten der PKS? –Alarmierendes. Zwischen 1984 und 1997 hat sich die polizeilich registrierte Gewaltkriminalität von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren in Westdeutschland um das 3,3fache erhöht. Und bei den Heranwachsenden, also den 18- bis 21jährigen, hat sie sich nahezu verdoppelt. Das ist die Hardware der kulturpessimistischen Schwanengesänge, die die Folgen zu hohen Fernsehkonsums, den Verlust von Werten und die Auswirkungen zerrütteter Familien beklagen.

Das Kriminologische Forschungsinstitut Hannover hat sich die Zahlen der PKS vorgenommen und einer genaueren Analyse unterzogen. Die Ergebnisse sind verwirrend. Denn der Anstieg der Jugendgewalt fällt in Wirklichkeit sehr viel schwächer aus, als die polizeilichen Daten das signalisieren. Geändert hat sich allerdings unter anderem das Anzeigenverhalten. Im Verlauf der neunziger Jahre haben die Gewaltdelikte, bei denen Opfer und Täter verschiedenen Ethnien angehören, aufgrund der beschleunigten Zuwanderung und der damit einhergehenden Veränderung der demographischen Zusammensetzung der Jugendgeneration zugenommen. Und in diesen Konstellationen ist die Bereitschaft, ein Delikt anzuzeigen, höher. Das heißt: In der Täter-Opfer-Konstellation „Max“ gegen „Moritz“ – also deutsche Jugendliche unter sich – wurde nur etwa jede fünfte Gewalttat angezeigt. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn „Mehmet“ den „Ahmed“ zusammenschlägt. Beraubt oder schlägt „Ahmed“ den „Moritz“ zusammen oder „Moritz“ den „Ahmet“, dann ist die Bereitschaft oder die Kompetenz zur informellen Konfliktregelung geringer, und jeder dritte Fall wird der Polizei gemeldet.

Die zweite überraschende Erkenntnis des Hannoveraner Instituts: Die polizeilich registrierten Gewalttaten Jugendlicher und Heranwachsender haben sich seit 1990 zwar verdoppelt. Aber gleichzeitig ist die durchschnittliche Deliktschwere deutlich zurückgegangen. Genauer: Der Anteil der Raubdelikte mit einem Schaden von über 500 Mark ist zwischen 1993 und 1996 von knapp 30 auf knapp 15 Prozent zurückgegangen. Der Anteil der Raubdelikte, bei denen es zu einer Verletzung des Opfers gekommen ist, ist von 42 Prozent auf 32 Prozent gesunken. Der Anteil von Fällen mit Verletzungen, die eine stationäre Behandlung notwendig machten, von rund 15 Prozent auf acht Prozent. Auch der Anteil von Gewalttaten mit Einsatz von Waffen ist rückläufig: Er nahm von 34,6 Prozent (1993) auf 17,5 Prozent (1996) ab.

Ergebnis der Untersuchung: Es gibt keine generelle, flächendeckende Zunahme von Jugendgewalt in Deutschland, sondern einen Anstieg von Gewalttaten junger Männer, die ein niedriges Bildungsniveau aufweisen und deren gesellschaftliche Position von relativer Armut, sozialer Ausgrenzung und schlechten Integrationsperspektiven gekennzeichnet ist. Ein Kreis, der sich in Westdeutschland in erster Linie aus Jugendlichen aus Migrantenfamilien rekrutiert, in Ostdeutschland aus deutschen Jugendlichen.

Was will die Gellschaft über sich wissen ?

Auch wenn es uns Medienschaffende und –konsumenten, immer auf der Suche nach dem gesellschaftlichen Skandal, nicht paßt: Christian Pfeiffers Beobachtung, daß die Gesellschaft im Verlauf der letzten Jahrhunderte femininer und damit friedlicher geworden ist, sehen wir von staatlich organisiertem Verbrechen wie dem Nationalsozialismus einmal ab, gilt auch für die 25 letzten turbulenten Jahre. Wenn wir subjektiv dennoch einen anderen Eindruck haben, dann hängt dies mit den Fragen zusammen: Wo schauen wir hin, was will die Gesellschaft über sich wissen, wovor verschließt sie die Augen?

Fällt Licht auf einen Gegenstand, erkennen wir ihn genauer, sehen wir mehr.

Wie im Bereich Jugendgewalt kann auch in den Bereichen rassistisch motivierter Gewalt, innerhäuslicher Gewalt und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung davon ausgegangen werden, daß sich im Verlauf der neunziger Jahre das sogenannte Dunkelfeld erheblich reduziert hat. Ein erhöhte Sensibilität der Gesellschaft, Aufklärungskampagnen, Sondereinsatzkommandos und –kommissionen haben dazu geführt, daß diese Delikte einer stärkeren gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und Sanktion unterliegen. Ein paar Beispiele: Welche Rückschlüsse läßt die Entwicklung der in der PKS erfaßten Fälle des sexuellen Mißbrauchs von Kindern (176 StGB) zu? 1984, vor den Kampagnen zur Enttabuisierung eines gesellschaftlichen Tabus, betrug die Zahl der angezeigten Fälle in Westdeutschland 10.589. 1997, nach 15jähriger erfolgreicher „Aufklärungs- und Aufdeckungsarbeit“ und der Durchleuchtung des Dunkelfeldes durch Einrichtungen wie „Wildwasser“, „Zartbitter“ und die Bild-Zeitung beträgt die Zahl der registrierten Fälle in Westdeutschland einschließlich Gesamtberlin 13.807. Ein Beleg für eine Zunahme des Kindesmißbrauchs ist das nicht. Denn 1973, also zu einer Zeit, in der angeblich eine Schweigekartell den Kindesmißbrauch noch streng tabuisierte, betrug die Zahl der von der Polizei erfaßten Fälle 15.566.

Eine weitere Mär im Bereich der Kriminalitätsentwicklung lautet: Heute können an jeder Straßenecke Schußwaffen gekauft werden – und, daran gibt es wenig Zweifel, sie werden auch eingesetzt. Machen wir es kurz: 1972 wurden in Westdeutschland 13.709 Straftaten registriert, bei denen geschossen wurde. 1980 waren es 8.892, 1985 6.787 und 1990 nur noch 4.185. 1995 wurden nun in Gesamtdeutschland 8.163 Schußwaffeneinsätze registriert, 1997 schließlich 8.081. Die These vom unaufhaltsamen Niedergang der Gesellschaft oder einer Amerikanisierung unserer Städte läßt sich mit diesen Zahlen nicht belegen.

Und wie sieht es an der Front von Mord und Totschlag aus? Nichts wird schlimmer. Die Lage ist stabil. Seit Jahrzehnten werden in Deutschland pro 100.000 Einwohner rund 1,4 Menschen im Jahr umgebracht. 1975 waren es in der Altrepublik 862 (einschließlich Westberlin), 1997 waren es 754 (ohne Gesamtberlin).

Vorläufiges Fazit: Die vieldiskutierte Gewaltkriminalität ist nicht die Pest unserer Zeit. Viele Diskussionen, die unter dem Signum des Werteverfalls geführt werden, stehen auf schwachen Füßen. Deshalb schlägt der Kriminologe Christian Pfeiffer seit Jahren vor: „Nicht der Wertewandel sollte das große Thema der Kriminalpolitiker sein, sondern die neue Armut im Land.“ Folgen wir seinem Ratschlag, bleibt festzustellen: Rund zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland gelten als arm, diese Haushalte verfügen über weniger als fünfzig Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Allein in den letzten fünfzehn Jahren hat sich in der alten Bundesrepublik die Zahl der Sozialhilfeempfänger verdoppelt. Gleichzeitig hat sich der Kreis, der von „Stütze“ abhängig ist, weg von älteren Frauen hin zu mehrheitlich Jüngeren und Männern entwickelt. Zu Gruppen also, bei denen ein hohes Risiko besteht, daß sie aus ihrer Armutslage heraus Straftaten begehen.

Tatsächlich ist die „dramatische“ Zunahme der Kriminalitätsfälle der letzten Jahrzehnte weniger auf die kriminelle Energie internationaler Verbrechenssyndikate oder durchgeknallter Jugendlicher zurückzuführen als vielmehr darauf, daß die Bundesbürger die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums aktiv in die Hand genommen haben. Zwischen 1974 und 1997 stieg die Zahl der Diebstähle von 1,9 Millionen auf 3,5 Millionen an. Aber auch hier ist seit 1993 die Tendenz rückläufig. Vor allem bei Diebstählen unter erschwerten Umständen wie Wohnungseinbrüche, Kfz-Delikte, Automatenaufbrüche. Was steigt, ist die Zahl der Ladendiebstähle. Darüber mag sich erregen, wer will, als sozialer Interaktionsprozeß allerdings sind sie nur konsequent. Denn die Zunahme dieser Diebstähle ist auch eine Folge aggressiver Werbestrategien und risikoträchtiger Handels- und Wirtschaftsformen (etwa dem bargeldlosen Zahlungsverkehr), die bei Millionen von Menschen einen permanenten Bedürfnisstau erzielen. Folglich wird dort am meisten aus den Kaufhäusern geklaut, wo viele Menschen leben, die nur über bescheidene finanzielle Mittel verfügen. Die Hitliste der fünf Klaustädte Deutschlands im Jahr 1997: 1. Halle, 2. Schwerin, 3. Magdeburg, 4. Kiel, 5. Erfurt. Und die Hitliste der Städte mit den „ehrlichsten“ Bürgern, in denen nach der PKS am wenigsten aus Kaufhäusern geklaut wird, lautet: 1. Chemnitz, 2. Hagen, 3. Bochum, 4. Wuppertal, 5. Duisburg.

Eberhard Seidel ist taz-Redakteur im Ressort Meinung & Debatte

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