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Die Sinfonie des Zilp-Zalp

60 ehrenamtliche VogelkundlerInnen sammeln derzeit Daten für den ersten „Hamburger Brutvogelatlas“. Mit auf der Pirsch war  ■ Heike Dierbach

Melodisch aber bestimmt reißt mich das Telefon aus dem Schlaf. Am anderen Ende meldet sich eine muntere Stimme: „Also, ich gehe gleich los – wenn Sie mitkommen möchten?“ Der Wecker zeigt 5 Uhr 30. Sonntagmorgen. Richtig, erinnere ich mich: Bei Sonnenaufgang wollte der Ornithologe anrufen, ob das Wetter geeignet zur Vogel-Pirsch ist. Aber es regnet doch? „Kein Problem“, spricht die Stimme, „haben Sie noch kein Ohr rausgehalten?“ Nein. Mein Ohr hat bis eben intensiv an der Matratze gelauscht. Jetzt dringt tatsächlich von draußen Zwitschern ins Bewußtsein, und das Über-Ich ruft: „Ich komme schon.“

Am verabredeten Treffpunkt bei der Blauen Brücke in Billbrook schläft noch alles, was keine Federn hat. Der Ornithologe Sven Baumung erläutert sein heutiges Operationsgebiet: 330 Quadratmeter, die jeweils zur Hälfte aus Kleingärten und Industriegebiet bestehen. Gleichzeitig mit ihm machen sich zahlreiche VogelfreundInnen in ganz Hamburg an die Arbeit: Sie sammeln Daten für den „Hamburger Brutvogelatlas“, das bundesweit erste Projekt zur quadratkilometergenauen Erfassung aller in einer Stadt lebenden Vögel.

Die Idee dazu hatte Anfang 1997 Alexander Mitschke vom Ornithologischen Arbeitskreis an der staatlichen Vogelschutzwarte Hamburg. „Mit dem Atlas erhalten wir erstmalig genaue Grundlagendaten“, erklärt Baumung, „damit können wir später zum Beispiel verfolgen, ob die Population einer Art zu- oder abnimmt“. Die „hohe Ornithologendichte“ in der Hansestadt habe das Projekt ermöglicht. 768 Quadratkilometer sollen kartiert werden, wobei die rund 60 ehrenamtlichen MitarbeiterInnen nicht alles, sondern ein repräsentatives Drittel untersuchen und die Zahlen hochrechnen. Gut die Hälfte haben sie 1997 und 1998 bereits abgelaufen, den Rest wollen sie bis zum Herbst 2000 schaffen. Die Umweltbehörde fördert das Projekt mit knapp 50.000 Mark.

„Drossel – Mönchsgrasmücke “ spricht Baumung ins Diktiergerät

Die kleinen Aufwandsentschädigungen sind aber wohl für keineN der Hobby-OrnithologInnen der Grund, so früh schon so wach zu sein. Baumung, der völlig ohne Bezahlung arbeitet, hat sich, während er auf mich gewartet hat, schon mal umgesehen, ein paar Elsternester entdeckt und in seine Karte eingetragen. „Das Elsternproblem ist auch so ein Thema für sich“, brummelt der Biologe – wobei er mit „Problem“ nicht die Elstern meint, sondern die Vorurteile gegenüber den schwarz-weißen Vögeln und die Übertreibungen der Presse. Wenn er morgens Schlagzeilen wie „Hitchcocks Horror-Vögel“ lese, schimpft der 36jährige, „könnte ich mich den ganzen Tag ärgern.“ Die Elster, erklärt er, habe keinerlei Einfluß auf andere Vogel-Populationen in Hamburg.

160 Vogelarten leben in der Hansestadt. Baumung kennt von allen Aussehen und Gesang. Kaum sind wir in Richtung Kleingärten losgeradelt, taucht der Ornithologe in eine andere Welt ein. Obwohl er die Kapuze abgesetzt hat, um besser hören zu können, scheint er den Regen kaum zu bemerken und diktiert in sein Aufnahmegerät: „Drossel – Haussperling – Zilp-Zalp – Mönchsgrasmücke – Zaunkönig“. Für ihn muß um uns herum gerade ein Sinfoniekonzert erklingen. Ich höre nur Zwitschern. Wenn überhaupt. Baumung hat Mitleid. „Da, hören Sie? Der da so abwechselnd hoch-tief singt, das ist der Zilp-Zalp.“ Tatsächlich – die Melodie ist klar zu hören. Zu sehen ist nichts. Aber jetzt: Auf dem Wipfel einer Fichte sitzt eine Heckenbraunelle. Baumung reicht mir sein Fernglas, damit ich sie besser erkennen kann: „Sie müssen entschuldigen, wenn ich etwas abweisend wirke. Aber für mich ist das fast wie Meditation“.

Wir haben die Grenze des Kartierungsbereiches erreicht. Aber Baumung möchte unbedingt weiter, um einen Gartenrotschwanz zu finden. Vom Hauptweg der Kleingartensiedlung biegen wir in die „Amselgasse“ ab. Dann vorbei am Vereinslokal „Meisennest“. In einem Garten steht ein lebensgroßer Plastikreiher. Selbst den entdeckt Baumung im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln. Mit den Anwohnern gebe es schon manchmal Probleme, erzählt der Ornithologe, „die denken gleich, man ist ein Verbrecher“. Das Fernglas nutze er aus diesem Grund nur selten. Aber jetzt ist die Luft rein, die Kleingärten liegen verlassen im Regen.

„Die Gesangsaktivität der Vögel ist bei diesem Wetter eingeschränkt“, erklärt Baumung. An schönen Tagen sei er fast immer bei Sonnenaufgang unterwegs. „Ansonsten arbeite ich beim Nabu“, fährt er fort – und mit schnellen Blicken in die Gärten zu beiden Seiten: „Jetzt habe ich immer noch keinen Gartenrotschwanz gefunden.“ Dafür flitzen ein paar Mauersegler vorbei, „meine Lieblingsvögel“. Um so mehr betrübt ihn, daß der Bestand zurück geht, weil der Vogel immer weniger Nistplätze findet.

Wir biegen ins Industriegebiet ein. Am Sonntagmorgen herrscht hier fast ländliche Stille. Auch das Gezwitscher ist plötzlich merklich ausgedünnt. „Die schlichten Rasenflächen bieten Vögeln überhaupt nichts“, erklärt Baumung, „weder Nahrung noch Nistmaterial.“ Die kahlen, hohen Fabrikhallen links und rechts allerdings leisten zumindest einer Vogelart gute Dienste: dem Hausrotschwanz, der ursprünglich in Gebirgen zuhause war. Baumung weist mit der Hand auf einen kleinen schwarzen Punkt etwa zwanzig Meter über uns.

Zum Abschluß seiner Tour wirft der Ornithologe noch mit dem Fernglas einen Blick auf die Bille, auf der Suche nach Wasser-Jungvögeln. Und tatsächlich: Dort drehen zwei Haubentaucher ihre Runden, ihre Küken bequem auf dem breiten Rücken plaziert – ein Anblick, der Fachmann und Laiin gleichermaßen entzückt. „Man bekommt unheimlich viel für seine Mühe“, schwärmt Baumung. Manchmal sei es ein seltener Vogel, der einem „so ein Kribbeln“ gebe. Manchmal auch einfach ein Sonnenaufgang.

Die Stadt kennen Ornithologen so gut wie manche Taxifahrer

Der Biologe hat während des Zivildienstes beim Verein Jordsand in Norderoog mit der Vogelbeobachtung angefangen. Daß ein Kollege die Vogellaute ringsherum identifizieren konnte und er nicht, habe ihn geärgert: „Da habe ich mich –reingekniet“. Fragen zu seiner Person sind Baumung aber gar nicht recht: „Der Brutvogelatlas ist vor allem ein Gemeinschaftsprojekt“, betont er. Wenn der Atlas voraussichtlich 2001 publiziert wird, werde er hoffentlich WissenschaftlerInnen, stadtfremden OrnithologInnen oder StadtplanerInnen eine Hilfe sein. Einige „spektakuläre“ Erkenntnisse gibt es jetzt schon: So haben die BeobachterInnen beispielsweise im Hafen einen Steinkauz und Schwarzkopfmöwen entdeckt. Auch der Bestand an Blaukehlchen ist mit zwanzig bis dreißig Paaren größer als angenommen.

„Nicht zuletzt ist ein schöner Nebeneffekt der Kartierung, daß man ganz neue Gebiete von Hamburg kennenlernt“, resümiert Baumung, als wir wieder an der Blauen Brücke ankommen, „ich könnte hinterher auch als Taxifahrer arbeiten“.

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