Der Charakter einer Straße

An wenigen Straßen Münchens läßt sich das Auf und Ab, das Hin und Her der bayrischen Metropole so gut nachzeichnen wie an der Türkenstraße. Eine Buchbesprechung  ■   von Thomas Pampuch

Die Geschichte von Städten ist auch eine Geschichte ihrer Straßen. Es ist ein höchst reizvolles, aber auch mühseliges Unterfangen, die Geschichte auch nur einer einzigen Straße nachzuzeichnen, ihren Mikrokosmos, ihren spezifischen „Geist“ – so sie denn einen hat –, ihren Charakter: „Die Straße als Brille, durch die das Jahrhundert betrachtet wird.“

Sieben Jahre lang hat die Münchner Autorin Hella Schlumberger die Straße, in der sie seit 30 Jahren wohnt, unter die Lupe genommen: die Türkenstraße in München-Schwabing (genauer: Maxvorstadt), einen Block hinter der Uni gelegen, von der Akademie parallel zur Ludwigsstraße südwärts bis in die Innenstadt führend. Fast 150 Geschichten hat sie sich erzählen lassen und gesammelt, „von Königstreuen über Rätesympathisanten bis zu Heil-Hitlers. Von Wirtschaftswunderkindern über 68er Revoluzzer zu coolen Zeitgeistträgern.“ Und dazu hat sie noch verdienstvolle historische Studien zur Frühgeschichte des ehemaligen „Türkengrabens“ betrieben.

Herausgekommen ist ein 888-Seiten-Werk, das jeden, der darin liest, unweigerlich auf diese Straße neugierig macht, ob er sie kennt oder nicht. An wenigen Straßen Münchens läßt sich das Auf und Ab, das Hin und Her, das Oben und Unten, ja selbst das Links und Rechts der bayerischen Metropole so gut nachzeichnen. Schon daß sie ihre Existenz als Kanal begonnen hat, den der bayrische Kurfürst Max Emanuel um 1700 bauen ließ, um von der Residenz nach Schloß Nymphenburg zu schippern, verleiht der Straße ein besonderes Flair. Angeblich sollen dabei die letzten türkischen Gefangenen von der Belagerung Wiens 1683 mitgewerkelt haben, woher sich der Name erklärt. Daß dieser „Türkengraben“ bald mehr als Müllhalde und Abort benutzt wurde, und als „Zuflucht für Räuber und alle Sittenlosigkeit“ diente, führte dazu, daß der Kanal 1811 zugeschüttet wurde. Doch irgendwie blieb etwas von dem Sumpf erhalten – gottlob. Bis heute ist die Türkenstraße eine der buntesten Kneipenstraßen der Stadt geblieben, mit einer beeindruckenden Ahnengalerie bedeutender Treffpunkte und dem legendären „Simpl“ mittendrin (der allerdings seine großen Zeiten hinter sich hat). Auch zwei der besten Kinos Münchens finden sich hier.

Der Planet Türkenstraße, den Hella Schlumberger erkundet, umfaßt von Handwerkern bis zu Geschäftsleuten, von Kabarettisten bis zu Künstlern, von Buchhändlern und Politikern alle Schichten der Gesellschaft, die als Anwohner oder Nutznießer mit der Straße zu tun hatten. Hier waren Hitler und Heydrich ebenso unterwegs wie der Bürgenbräu-Attentäter Georg Elser, nach dem jetzt der kleine Platz neben dem Türkendolchkino benannt ist. Hier wohnten oder trieben es alte und junge Anarchos von Mühsam bis Fritz Teufel, hier flipperten die Münchner Jungfilmer von Fassbinder (der hier sein Anti-Theater machte) bis Wenders. Von hier aus wurde 68 die damals um die Ecke liegende Bildzeitung gestürmt. Hier wurde auch eine der ersten Frauenkommunen gegründet, und hier entwickelten beim Bier sowohl (der jetzige Oberbürgermeister) Christian Ude wie sein langjähriger Antipode Peter Gauweiler ihre spezifischen Konsequenzen aus 68. Und hier lebt schließlich, ebenfalls seit etwa 68, der Penner Mathias auf der Straße. Nicht wenige halten ihn für „das Salz in der Suppe“ der Türkenstraße.

Natürlich ist dieses Buch chaotisch. Aber genau das ist es, was Hella Schlumberger auch an ihrer Straße anzieht, was den „Magneten Türkenstraße“ ausmacht. Darum sollte man das Buch lesen, wie man eine Straße nutzt. Mal dort gezielt zu einer bestimmten Adresse gehen, mal hier ein bißchen verweilen, mal da ein bißchen gucken und immer wieder flanieren. Wenn es denn überhaupt möglich ist, eine Straße zwischen zwei Buchdeckel zu packen, dann hat die fleißige Autorin mit ihrem Mosaik darin Maßstäbe gesetzt. Es macht Spaß, mit Hella Schlumberger die gute alte Türkenstraße neu zu entdecken. Aber schade ist doch ein bißchen, daß es den Kanal nicht mehr gibt. Hella Schlumberger: „Türkenstraße Vorstadt und Hinterhof“. Buchendorfer Verlag, München 1998, 888 S., viele Fotos, 68 DM