: Der alte Mann und der Plötzensee
Wenn die kleinen Angler mit den großen Träumen alle gegangen sind, kommt Oswald Pfeifer. Er bleibt die ganze Nacht und holt sich die größten Brocken. Ein Anglerporträt ■ Von Hans Korfmann
er Plötzensee im Norden Berlins ist nicht einfach ein Schwimmbad mit Trampolinen und Rutschbahn für die Jüngeren, Würstchenstand und FKK-Strand für die Älteren – der Plötzensee ist ein lebendes Gewässer. Im Schilf treiben Schildkröten, und im trüben Wasser werden Fische gesichtet, manchmal „ein ganz riesiger“, und dann breiten die Kinder die Arme aus. Aufgeregt laufen sie in Scharen, ausgerüstet mit ihrer Angelschnur, zwischen den Badenden den Steg entlang.
Wenn die letzten Kinder vom Megaphon des Bademeisters aus dem Wasser gescheucht werden und sich die nassen Handtücher in die Rucksäcke stopfen, wenn sich die Wellen auf dem Badeteich glätten und Ruhe einkehrt über dem Gewässer, dann wehen von drüben aus der Fischerklause die deutschen Schlager vergangener Zeiten herüber.
Einige schweigsame Gestalten mit der Bierflasche neben sich werfen ein letztes Mal ihre Angel aus, kratzen sich am Bart und pakken wieder zusammen. Andere warten weiter auf das Zucken der Schnur. Und dann, wenn die Sonne, die Schwimmer und die kleinen Angler mit den großen Träumen alle gegangen sind, dann kommt Oswald Pfeifer in seiner blauen Arbeiterjacke. Sein lachendes Gesicht erscheint zwischen den mürrischen Mienen der erfolglosen Feierabendangler wie ein freundlicher Mond mit Baseballkäppi.
Er klopft seinen Konkurrenten auf die Schulter, vertröstet sie auf den nächsten Tag oder erzählt etwas übers Anglerglück. Als kenne er sich aus damit. Dabei war das kein Glück, sondern Geduld und jahrelange Erfahrung, die ihm letztens gleich zwei Karpfen mit über 20 Pfund an die Angel brachten. „Das war derselbe von vorgestern!“ zweifelten die Neider. Aber der Chef von der Anglerklause war Zeuge, er hatte die zappelnden Lebewesen genau vermessen, bevor Ossi sie wieder zurück ins Wasser warf. „Der eine hatte zwei Zentimeter mehr als der andere!“ erzählt der Mann mit dem langen Bart im unbestechlichen Gesicht. Er weiß, daß jeder große Fisch hier zählt. Damit die Angler nicht den Mut verlieren. Viel verdient er nicht mit seinen Booten und den paar Bieren, die er verkauft. Und die Angler sind seine einzigen Stammkunden. Sie kommen auch im Winter noch, bohren Löcher ins Eis und trinken ihren Grog bei ihm.
Doch Zweifler glauben nicht recht an die zwei Zentimeter. Ganz trauen sie dem unverschämten Glück des Rentners nicht. „Een Zwanzigpfünder! Ick hab meen Leben hier keen Zwanzigpfünder an der Angel jehabt, solang ick hier steh! Aber der holt gleich zwei auf einmal raus, in einer Woche.“
„Und hier gibt's Vierzigpfünder, sag ich euch!“ meint Ossi. Aus dem blechernen Lautsprecher am Holzverschlag tönt Yellow River, auf dem grünen See kräuseln sich erste Wellen. Der Wind ist frisch, Oswald Pfeifer blickt zum Himmel: „Kommt wohl doch noch Regen.“ Aber weder Regen noch Sturm halten den alten Kämpfer zurück. Nicht umsonst nennt man ihn die „Legende vom Plötzensee“, den Mann, der den Sechsundzwanzigpfünder hier rauszog. Er kommt jeden zweiten Abend, um in den Plötzensee zu stechen. Öfter läßt ihn die Frau nicht. Denn Ossi bleibt die ganze Nacht über da draußen, bis morgens um fünf. Oft ist er der einzige in der Dunkelheit auf den Wellen, allein mit sich und seiner Angelrute und seiner Hoffnung auf den ganz Großen. Gegen Morgengrauen kehrt er an Land zurück, um sieben Uhr geht er schlafen. Aber um elf ist er wieder auf den Beinen. So war das früher auch immer. Als er noch in der französischen Kaserne am Schumacherplatz arbeitete. Nachtschichten. Bis vor acht Jahren.
„Ich bin ja schon 73“, sagt er, „da braucht man seinen Rhythmus!“
Das versteht auch die Frau. Sogar, daß es nichts Schöneres mehr gibt für ihren Ossi als diesen Moment, wenn es zuckt – an der Schnur. Sogar das versteht die Frau – es zuckt ja sonst nicht mehr so viel im Leben, wenn man mal in die Jahre kommt. Aber daß er ganze Nächte mit diesen glubschäugigen Fischen verbringen muß, anstatt ruhig und zufrieden neben der Gattin zu schlafen! Und dann bringt er sie noch mit, seine Geliebten! Weil keiner da war mitten in der Nacht, der sie fotografieren konnte. Einen Tag lang läßt er sie in der Badewanne schwimmen. Am Nachmittag trägt er sie zurück in seinem Plastikeimer, zur Fotosession. Dann darf er weiterschwimmen, der Prachtkerl.
Natürlich werden alle Fische wieder zurück in die Freiheit des Plötzensees entlassen. Das ist unausgesprochene Ehrensache unter den Anglern am Weddinger See. Schließlich ist man Sportler und nicht Pilzesammler. Die Plötze ist ein unappetitliches Schlammloch, das weiß auch er. Auf der wirklichen See hat er noch nie die Angel ausgeworfen. Das Meer ist für einen wie ihn ein fremdes Element. Obwohl er einmal bei der Marine war. Die letzten zwei Jahre während des Krieges hatten sie auch ihn geholt. Nicht einmal besonders gut schwimmen kann er. Das Meer ist nichts für ihn, mit den Haifischen und den Stürmen.
Im heimischen Gewässer aber fühlt er sich sicher, und wenn nachts junge Burschen über den Zaun klettern und die Boote entern, dann schlägt der Pensionist sie mit kräftiger Stimme in die Flucht. Sie würden ihm nur die Karpfen vertreiben mit ihrer jugendlichen Schaumschlägerei. Furcht kennt er nicht, der alte Krieger.
Die hat man ihm ausgetrieben, in Vietnam, 1949. Man hatte die deutschen Verlierer auf ihren Schiffen vor Bordeaux und Brest eingekesselt – da war Berlin schon längst gefallen. Sie waren die letzte Antlantikfestung. Und die Franzosen stellten Ossi vor die Wahl: Fremdenlegionär oder Kriegsgefangener. So zog er wieder in den Krieg, nach Afrika und in den Dschungel von Vietnam. Fünf Jahre. Bereut hat er's nicht. Andere haben ihr Leben da gelassen, er nur den kleinen Finger. „Aber an und für sich war's keine schlechte Zeit.“ Die exotischen Früchte, die sie da gegessen haben, und diese Mädchen dort. Die Landser, die überlebten, bekamen am Ende eine „Engagementprämie“ von 12.000 Mark. Das war nicht schlecht.
Andere hatten mehr Pech. Seinen besten Schulfreund zum Beispiel haben die Russen nach Sibirien verschleppt, der kam erst 1953 nach Hause, „abgemagert bis aufs Skelett“. Ossis Augen werden ein bißchen feucht. „Und der hat dann auch nicht mehr lange gelebt. Ja, das sind so Geschichten.“ Ossi hat viele Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel die von der Nacht des 23. März 1948. Da hat er sich besoffen, das einzige Mal in seinem Leben. Weil sein Mädchen heiratete, „die Kleene, mit der ich verlobt war, einen andern. Zu Hause! Und ich zog nach Vietnam. Erinnerungen, sag ich Ihnen!“
Pfeifers Portemonnaie ist voller Fotografien, doch keine vergilbten Schwarzweißpapiere, keine freundlichen Gesichter von Frauen, Freunden, Kriegsgenossen, Kindern – sondern die mürrischen Grimassen von Karpfen, Karpfen in allen Größen, die er wie Babys auf dem Arm trägt.
Ossis Boot treibt nicht in Ufernähe wie die andern, er ist dort, wo es tief ist. Immer an genau der gleichen Stelle füttert er seine Lieblinge. Jeden zweiten Tag. Die wissen schon, wenn er kommt. Er ist nämlich „treu, pünktlich, zuverlässig“. Wenigstens die Fische danken einem diese Tugenden noch. Er ist sich sicher, die ganz großen sind in der Mitte, die treiben sich nicht am Ufer herum. Und die wissen, was gespielt wird. Schon öfter sind sie ihm durchgegangen mit der Angel. Einer riß sogar noch die zweite Rute mit sich. Das war der Sechsundzwanzigpfünder. Aber rausgekriegt hat er ihn doch. Und das war ein Kampf. Ein richtiger Zweikampf.
Die am Ufer reden jetzt viel über den Kampf auf dem Balkan. Ossi läßt das kalt. „Wozu soll ich mich noch aufregen? Vielleicht lebe ich ja gar nicht mehr lang. Letztes Jahr haben sie mich operiert. Aber mir geht's gut!“ Er sagt das, obwohl er weiß, daß so ein Krebs hartnäckig ist. Der beißt sich fest, der gibt nicht gleich auf. Pfeifer aber auch nicht.
„Es gibt einfach keinen schöneren Moment im Leben als den, wenn es plötzlich so zuckelt an der Schnur.“ Darauf warten hier alle. Manchmal zwei Tage lang. Da beißt einfach keiner mehr an. Warum, das wissen nur die Fische, und die sind stumm. Er muß sich beeilen und zwinkert: „Ist ja das letzte Mal heute! Die nächsten vier Wochen muß ich darben. Da fahren wir auf Urlaub, nach Mecklenburg. Da gibt's auch nen See. Aber da zuppelt es überhaupt nich mehr.“
Seit 26 Jahren verbringt die Familie dort die Ferien, seit 17 Jahren angelt Ossi am Plötzensee. Auch zu seiner Meinung steht Ossi schon seit 50 Jahren. „Treu und zuverlässig“, immer rechts. Wenn die PDS noch SED heißen würde, dann würde er einen gewissen Respekt haben vor denen. Dann könnte er sich das noch einmal überlegen. So aber sehen sie aus wie Verräter.
Ossi legt sich in die Riemen, kraftvoll zieht er die Ruder durch, der Wind bläst heftig vom Norden herüber. Die ganze Nacht wird der alte Mann draußen bleiben und auf den Vierzigpfünder warten, bis die Sterne untergehen und die Kinder wiederkommen mit ihren großen Träumen von Seeschlangen und Welsen und all den anderen Schätzen, die sich auf dem Grund des Sees verbergen. Und an die keiner dieser langweilen Erwachsenen mehr glauben will. Fast keiner.
Nichts Schöneres gibt es für Ossi als diesen Moment, wenn es zuckt an der Schnur
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