Der Präsident als Zeichen

Der Staat – das ist alles, irgendwie: Parlament, Regierung, Parteien, Bürger, der Bayerische Wald. Der Staat – das ist einkomplexes Geflecht aus gesellschaftlichen Interessen, institutionellen, normativen und politischen Komponenten. Schwer vorstellbar, daß all das auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sein soll. Es sei denn, jemand steht dafür gerade. Hegel und die deutschen Idealisten waren sich sicher, daß nur der Fürst diese Identität garantieren könne. Regierungen handeln, das sieht jeder, Staaten hingegen tun nichts. Deshalb muß etwas für sie getan werden.

Den nach jahrhundertelanger Kleinstaaterei um Nation und Programm ringenden Deutschen versprach die großväterliche Figur Kaiser Wilhelm I. die Erfüllung der Sehnsucht nach Staat, Einheit und Ganzheit. Obwohl oder gerade weil die praktische Politik in den Händen des Kanzlers und Lotsen Bismarck lag: Der Staat, das war Willi.

Ein Erbe, an dem die Bundespräsidenten zu tragen haben. Einmischung in die Niederungen der Tagespolitik erwartet von ihnen niemand. Als Richard von Weizsäcker nicht aufhören wollte mit seiner Schelte der Parteien, handelte er sich harsche Kritik ein. Höchstens die eher schulmeisterlich vorausblickende allgemeine Belehrung der Nation wird toleriert. Weizsäckers Pädoyer für soziales Engagement etwa, oder Herzogs Hauruck-Rede. Das Gute, Wahre und Schöne soll der Präsident erkennen und beschwören – oder zumindest das, was jeder irgendwie auch immer schon so gedacht haben will. Der Präsident ist für alle da.

Aus diesem Grund geht die verfassungsrechtliche Analyse der Kompetenzen des Bundespräsidenten am Kern des Amtes vorbei. Kein Präsident nutzte den Spielraum, der ihm vom Grundgesetz gegeben wird, jemals aus – soll er auch gar nicht. Denn gerade das Nichthandeln, das bloße Vorhandensein, hebt den Repräsentanten des Staates von der Arena der Interessen und Konflikte (partei)politischen Handelns ab und verbreitet präsidiale Aura. Darin offenbart sich das Wesen seines Charismas, im Wortsinn Zeichen: Als Zeichen verweist der Präsident auf eine Sphäre, in der die Divergenz der Gesellschaft aufgehoben ist. Alles wird gut.

„Dadurch“, so der preußische Historiker Leopold von Ranke, „unterscheidet sich der Staatsmann von dem schwätzenden Pöbel oder der Leidenschaft der Partei, daß er Gefahr von weitem erkennt.“ Der Bundespräsident und seine blaublütigen europäischen Kollegen sind bei ihren Untertanen hoch angesehen, weil sie für die Konstruktion „Staat“ als Einheit der Vielheit symbolisch bürgen und damit in der Unübersichtlichkeit dessen, was ist, Kontinuität versprechen.

Die amerikanischen Verfassungsväter verzichteten bewußt auf die Konstruktion eines funktionalen Äquivalents zur Position des Fürsten. Der US-Präsident macht Politik – und wie. Mark Schieritz