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Verzweifelter Kampf um Zentimeter

Ein „Jahrhunderthochwasser“ überflutet Oberbayern, Schwaben und das Allgäu. Die Helfer stehen oft hilflos vor überfluteten Dämmen und vor Bächen, die sich blitzschnell in reißende Ströme verwandeln  ■   Aus Kempten Klaus Wittmann

Der Minister war sichtlich geschockt. „Wir sind gerade in Neu-Ulm über die Donau geflogen, da haben wir einen Mann im Wasser gesehen“, berichtet Bayerns Innenminister Günther Beckstein. Sein Hubschrauberrundflug über dem Hochwassergebiet wird für einen 20jährigen Krankenpfleger aus Ulm zur Rettung. In einer waghalsigen Aktion zieht die Besatzung des Hubschraubers den Pfleger Marcus Kosmiki aus der reißenden Donau, nachdem Beckstein und sein Referent kurzerhand auf dem Festplatz von Neu-Ulm abgesetzt worden sind. „Ich habe den Hubschrauber schon von weitem gesehen“, berichtet wenig später der Gerettete. „Aber ich dachte, der fliegt vorbei. Dann war er ein paar Meter vor mir und hat gewartet, bis ich mit der Strömung gekommen bin. Der Pilot saß auf den Kufen und zog mich auf das Gestänge.“

Eine „Jahrhundertflut“ war es, die über das Pfingstwochenende in Bayern die Flüsse über die Ufer treten ließ (siehe Kasten). Die Helfer standen oft hilflos vor überfluteten Innenstädten, gebrochenen Deichen und kleinen Wasserläufen, die sich im Nu in reißende Ströme verwandelten. Wolfgang Strahl von der Johanniter Unfall-Hilfe erinnert sich: Noch am Freitag nachmittag, 17 Uhr, saß er in der Geschäftsstelle in Kempten und bereitete die letzten Papiere vor für einen großen Sammeltransport von Hilfsgütern nach Makedonien. Mit einem Ohr war er immer am Funkgerät. Denn er weiß: Die andauernden Regenfälle könnten die Pläne für den Konvoi gehörig durchkreuzen. Eine Stunde später ist genau das passiert: Der Sammelstransport in Richtung Makedonien ist gestoppt. Das Einsatzgebiet liegt nun vor der Haustür.

Christl Martin, eine Mitarbeiterin der Johanniter, hat dringend um Hilfe gebeten. Sie wohnt in Rauhenzell, einem Stadtteil von Immenstadt bei Oberstdorf, der von der Iller umarmt wird. Die Iller, ein sonst eher wasserarmer Fluß, entwickelt sich zu Hochwasserzeiten oft blitzschnell in einen reißenden Strom. Die immensen Niederschläge der vergangenen dreißig Stunden ließen die Flüsse anschwellen. „Wir brauchen dringend ein Notstromaggregat“, bat Christl Martin ihre Kollegen. „Das Wasser steigt im Minutentakt, ihr könnt zuschauen, wie schnell das geht. Das halten die Dämme nicht lange aus.“

Strahl weiß, was das bedeutet: Die Uferbefestigungen sind vom letzten Hochwasser noch durchweicht. 150 bis 200 Liter pro Quadratmeter, 150 bis 200 Zehn-Liter-Eimer, hat der Wetterbericht angekündigt. Als die Helfer das Notaggregat nach Rauhenzell bringen, steht das Wasser bereits bis fast auf Fahrbahnhöhe an der Illerbrücke. Strahl meldet an die Zentrale: „Die Brücke vibriert bereits.“ Lange wird sie dem Druck der Wassermassen nicht mehr standhalten. Am Illerdamm arbeiten fieberhaft Bewohner und Helfer. Lastwagen eines nahen Kieswerkes fahren unentwegt Dichtmaterial zum Damm. Doch der wird kurzerhand vom schnell ansteigenden Wasser überflutet.

Nach und nach werden 300 Menschen aus Rauhenzell evakuiert. Mitternacht ist vorbei, längst ist der Strom ausgefallen, es gibt kein Trinkwasser mehr, keine Heizung funktioniert. Rauhenzell ist von der Außenwelt abgeschnitten. Anfangs fahren noch die Unimogs der Bundeswehr, dann ist auch damit Schluß. Die Illerbrücke ist seit Stunden gesperrt, Immenstadt selbst steht unter Wasser.

Von seinem Kollegen Alexander Schwägerl vom Roten Kreuz hört Wolfgang Strahl die nächste Hiobsbotschaft: Das Krankenhaus steht bereits bis zur Kellerdecke unter Wasser. Die Helfer haben vier Stunden Zeit, um die 106 PatientInnen in Sicherheit zu bringen. Die größte Evakuierungsaktion der Region läuft an.

Bundeswehrfahrzeuge bringen die Patienten zum Hubschrauberlandeplatz. Wer nicht mehr auf die Lastwagen paßt, wird von den Feuerwehrleuten über den Bahndamm getragen, der wie ein Bollwerk die andere Seite der Stadt vor den Wassermassen schützt. Per Funk hören die Einsatzkräfte, daß an der überschwemmten Bundesstraße B 19 ein Notarzt im Wasser steckengeblieben ist. Die Feuerwehr zieht sein Fahrzeug aus dem Morast von Schlamm und Wasser. Der Arzt steigt für seine Patientenbesuche auf ein Allradfahrzeug der Bergwacht um.

Um den erschöpften Helfern wenigstens zwei oder drei Stunden Schlaf zu ermöglichen, sind inzwischen in der „Grüntenhalle“ von Immenstadt Feldbetten aufgebaut worden. Sie haben sich noch nicht richtig zur Ruhe gelegt, da kommt es zum nächsten Dammbruch. Ein Altenheim mit schwer pflegebedürftigen Menschen ist von den Wassermassen bedroht. Mit Großpumpen versucht die Feuerwehr, das Wasser aus dem Keller zu bekommen. Noch zehn Zentimeter, dann erreicht es den Sicherungskasten und den Brenner der Heizanlage, dann muß das ganze Haus geräumt werden. Es klappt. Die Wasserhöhe wird durch die Pumpen konstant gehalten.

Von einem Kollegen hören die Retter, daß im Nachbarlandkreis, in Pfronten im Ostallgäu, zwei Jugendliche in dem Flüßchen Vils offenbar zum Rafting wollten. Ihr Schlauchboot kenterte sofort. Ein Siebzehnjähriger wurde von einem Nachbarn total unterkühlt aus dem reißenden Fluß gezogen, der sich sonst eher als besserer Bach durch das Voralpenland schlängelt. Sein 18jähriger Bruder wird nicht mehr gefunden. In der gleichen Nacht hören sie, daß im Unterallgäu ein Rentner in seinem Keller ertrunken ist. Das gleiche Schicksal ereilt einen Rentner in Garmisch-Partenkirchen, der seine Gummistiefel aus dem Keller holen wollte. Glück hat ein 53jähriger Radfahrer achtzig Kilometer nordöstlich an der Donau bei Marxheim. Er wird mit seinem Fahrrad kurzerhand von einer Wasserwoge von der Straße gefegt, kann sich gerade noch an einem Baum festklammern. Doch es dauert über eine Stunde, bis seine Hilferufe gehört werden. Ein Feuerwehrboot bringt den völlig unterkühlten Mann zu einer trockenen Stelle, von wo aus er mit dem Hubschrauber in die Klinik gebracht wird.

Nachdem sich das Wasser ein wenig zurückgezogen hat, sind in Immenstadt derweil die ersten Straßen wieder befahrbar. Braune Schlammassen überdecken alles. Mit Schaufelladern wird der Weg freigeräumt. Auch die ersten Bewohner von Rauhenzell sind zurückgekehrt. Die Aufräumarbeiten beginnen.

Doch während sich im südlichen Allgäu die Lage beruhigt, schiebt sich die Wasserwalze immer mehr auf die Donau zu. In Senden wird zum zweiten Mal innerhalb einer Woche die Illerbrükke gesperrt. Das mächtige Betonbauwerk hebt sich um fünf bis zehn Zentimeter. In Augsburg bricht der Damm der Wertach. Mehrere Stadtteile wurden überflutet, ein leerstehendes Haus am Fluß wurde zur Hälfte weggespült. Auch in der Fuggerstadt wird Katastrophenalarm ausgelöst.

Auf einer Krisensitzung zieht Inneminister Beckstein eine vorläufige Bilanz. „Es war ein Jahrhunderthochwasser, an manchen Stellen war es seit mehr als 500 Jahren nicht mehr so schlimm“, sagt er. Eine Schadensbilanz könne noch nicht gezogen werden. Schließlich stehe den Donaustädten das Schlimmste noch bevor. War die Katastrophe nicht zu verhindern? „Wenn wir eine Bebauung in Flußnähe verhindern, werden wir als Bürokraten beschimpft“, meint etwas resigniert der schwäbische Regierungspräsident. Und Beckstein merkt an, in diesen Bereichen werde man künftig wohl doch restriktiver vorgehen. Am Rande wird bemerkt, daß in Ingolstadt eine nicht genehmigte Gartenhaussiedlung kurzerhand weggespült wurde.

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