: Hang zur verblüffenden Lösung
■ Karl Bruckmaiers Soundcheck funktioniert wie Hyperlinks: anklicken, weitersuchen – ein Spiel voll ästhetischem Wagnis
Die siebziger Jahre, ein Familienabend vor dem Fernseher, und im WDR-Rockpalast kommt Tom Waits: „Ich fand ihn eher Scheiße, doch meine Eltern fanden ihn so richtig SCHEISSE! ... Den konnten sie nicht ertragen. Dieses absolut undeutsche Beatnik-Verwahrlosungs-Jazz-Drogen-Geklimper führte direkt in die Hölle. Ich machte mir in Gedanken einen Vermerk, zweimal mental unterstrichen, und besorgte mir bei erster Gelegenheit die Platten von Tom Waits.“
So begann es wohl, in der Kindheit, und daraus wurde dann irgendwann Karl Bruckmaier, Popmusik-Kritiker der Süddeutschen Zeitung. In deren Feuilleton veröffentlicht er nicht nur eine Pop-Kolumne, sondern bricht auch schon mal – in diesem seltsam ereignislosen Musikfrühling 99 – eine Pro-und-contra-Debatte zum neuen „Blumfeld“-Album vom Zaun und wirft Sänger Distelmeyer onanistische Selbstinszenierung vor. „Soundcheck“ heißt nun sein erstes Buch, und es will auf 170 Seiten die „101 wichtigsten Platten der Popgeschichte“ präsentieren. Nicht die besten, wohlgemerkt. Der Autor stellt sich die ausgewählten Alben eher wie Hyperlinks im Internet vor: „anklicken und weitersuchen“. Denn, so Bruckmaier in seiner lesenswerten Vorbemerkung weiter, „Plattensammeln ist ein Spiel, das nicht anhand von Bestenlisten und dem Fetisch der Vollständigkeit zuliebe gespielt werden sollte, sondern nur mit einem geradezu erotischen Verhältnis zur Musik, mit dem Hang zur verblüffenden Lösung, mit ästhetischem Wagnis, meinetwegen auch mit großmäuliger Selbstinszenierung.“ Es geht also darum, mit dem eigenen Geschmack gleichzeitig sich selbst auf die Spur zu kommen. Die Plattensammlung ist der Soundtrack für diesen komischen Film, der sich irgendwann mal als das „eigene Leben“ entpuppen wird. (Gut möglich, daß dann nicht viel Eigenes übrigbleibt, wenn man immer nur Phil Collins oder Nirvana gehört hat ...)
Dabei sieht man einer gewissen Beliebigkeit und Zufälligkeit besser gleich tapfer ins Auge. Souverän verkündet Bruckmaier auf dem pinkfarbenen Einband, wer leider draußen bleiben mußte: „Pop-identische Inhaltsstoffe“ wie (yes!) die Beatles und Pink Floyd, aber auch (ho ho!) Bruce Springsteen und Sting – pure Fan-Provokation, die Spaß macht.
Des Kritikers Säulenheilige sind dagegen Singer/Songwriter wie Bob Dylan und auch keinesfalls unantastbar (“Singt so komisch!“). Bei den ausgewählten Alben bemüht er sich um Offenheit von Country bis Drum 'n' Bass. Wichtig ist der Bezug zur Gegenwart, im Zweifelsfall erhält die Neunziger-Jahre-Produktion den Vorzug. Die verschiedenen Stilrichtungen werden zwischendurch in kleinen Kästen erklärt, teilweise ein bißchen zu professoral-interreferentiell (“Sagt man Russolo, muß man wohl auch Cage und Satie sagen“).
Natürlich ist jeder Kritiker zwangsläufig ein Klugscheißer – man stelle sich vor: Jemand, dessen Beruf es ist, den Leuten zu erzählen, wie er die Dinge sieht. Am Ende sind die Meinungen jedoch nichts Eigenes, sondern der Versuch, mit anderen in Kontakt zu treten. Da Interesse zu wecken, wo sonst nichts wäre. Und wenn es zu „interlektuell“ wird, wie ein Leserbriefschreiber fand, kann Bruckmaier eben auch immer noch anders: Das bevorzugte Format von Grunge sei der „Soundtrack-CD zu dem Film, wo dieser Typ mit den fettigen Haaren neunzig Minuten nachdenken muß, ob er eventuell mit dem blonden Mädchen schlafen will“. Andreas Merkel
Karl Bruckmaier: „Soundcheck. Die 101 wichtigsten Platen der Popgeschichte“. Becksche Reihe 1999. 172 Seiten. 17,90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen