Wenn der gefallene Erzengel spricht

Im Monsun Theater feiert das dekadente Böse eine ergreifende Auferstehung: mit Lautréamonts „Gesängen des Maldoror“, inszeniert von Jens Paarmann  ■ Von Ulrike Bals

Sein ganzes Leben, sagt der Mann im Clownskostüm zu Beginn des Theaterstückes, habe er die Menschen beobachtet: wie sie mit engen Schultern stupide Taten vollbringen und die Seelen mit allen Mitteln verderben. Lachen wollte er darüber, so wie die anderen – aber er konnte nicht. Schließlich habe er sich das Lachen mit einer scharfen Klinge ins Gesicht geschnitten: „Aber nach kurzen Vergleichen sah ich genau, daß mein Lachen dem der Menschen nicht glich, das heißt, ich lachte nicht.“

Es bleibt kein gutes Haar am Menschen, in den abgründigen Texten des Comte de Lautréamont, wie sich Isidore Ducasse nannte. Der 1870 im belagerten Paris mit nur 24 Jahren verstorbene Dichter hat der Nachwelt ein irritierendes Vermächtnis hinterlassen: Die Gesänge des Maldoror stellen in ihren apokalyptischen Bildern und brutalen Phantasien selbst Baudelaires Blumen des Bösen in den Schatten. Denn Maldoror, der abgefallene Erzengel, der sogar sein Gewissen ermordet hat, quält und tötet mit der größten Lust.

Paradoxerweise verfolgte Lautréamont damit jedoch höchst moralische Ziele. Wie einige seiner Zeitgenossen glaubte er nämlich an die läuternde Wirkung seiner schwarzen Poesie. Die Schilderung des Bösen sollte im Leser einen um so heftigeren Wunsch nach dem Guten auslösen. Doch seine Rechnung ging nicht auf: Schließlich mußte er zugeben, daß er mit detaillierten Gewalt-Beschreibungen lediglich niedere Triebe bediente. Seine philosophisch inspirierte Phänomenologie des Bösen wurde von seinen Kritikern als perverse Phantasmagorie verkannt. Erst viel später entdecken ihn die Surrealisten als „Schleusenmeister der Literatur von morgen“.

Jetzt hat der junge Hamburger Regisseur Jens Paarmann zum zweiten Mal das literarische Ungeheuer aus der Vergessenheit hervorgehoben und am Hamburger Monsun Theater als Ein-Mann-Stück inszeniert. Ungemütlich wird es im Saal, wenn Christopher Zumbült sich in die perfiden Gedankenwindungen des Schattenfürsten Maldoror versenkt. Als Inkarnation des Bösen sitzt er vom Publikum abgewandt. Und während er aus den sadistischen Phantasien rezitiert, erscheint auf dem Bildschirm seine lüsterne Fratze. Kindertränen, so läßt er die Zuhörer wissen, sind die köstlichste Speise – denn sie kennen noch nicht das Schlechte. Sein Körper bebt unter den spasmischen Zuckungen eines Besessenen. Dann erscheint er plötzlich zärtlich in ein Telefongespräch vertieft. „Ich liebe Dich. Du legst auf. Nein, du legst auf. Nein, du.“ Für einen kurzen Moment sieht man den Menschen unter der entsetzlichen Maske. Doch als er die Vergewaltigung eines Mädchens beschreibt, verhakt sich sein Vortrag gefühllos in der ästhetisierenden Sprachmelodie. „Was ist denn?“, fragt er das verstörte Publikum. „Ich weiß“, beruhigt er mit versöhnlicher Stimme. Eine direkte Entladung zwischen Schauspieler und Zuschauer gibt es nicht – soll es auch nicht geben.

„Solche Interaktionen interessieren mich nicht“, meint Regisseur Jens Paarmann. Vielmehr will er auffordern, wachsam zu bleiben: „Es wird soviel Gewalt gezeigt. Die Zeitungen sind voll davon. Es ist wichtig, daß die Menschen nicht abstumpfen, nicht aufhören zu reflektieren, was um sie herum geschieht.“ Was also ist gut, was böse? Die Frage bleibt offen. Das eine bedingt wohl das andere, so wie das telefonische Selbstgespräch, mit dem der Protagonist zum Schluß den Raum verläßt. Die eine Seite war uns schon bekannt. Jetzt kennen wir auch die andere: „Du legst auf.“

noch am Samstag und Sonntag, jeweils um 20 Uhr, im Monsun Theater, Friedensallee 20.