:
■ Homo postsovieticus: ein Fotoband von Boris Mikhailov
Stilistisch knüpft Boris Mikhailov mit seinen neuen Arbeiten an die New Color Photography an, wie sie Ende der 80er in Großbritannien und dann auch auf dem Kontinent aufkam. Doch an die Stelle der bevorzugten Protagonisten dieser neuen Farbfotografie – Clubgänger, Raver, Skater, eben die zwischen Mode und Dissidenz angesiedelte Jugendszene in London und anderswo – ist bei Boris Mikhailov der Homo sovieticus der postkommunistischen Ära getreten, eher zwischen Anarchie und Abgrund anzusiedeln.
Und weil in Dresden gerade eine Ausstellung zum Thema eröffnet hat, liegt die Frage nahe: Ist es das, was übriggeblieben ist vom Neuen Menschen der Neuen Gesellschaft des revolutionären Sozialismus? Arme Säufer, die ihre in Zeiten der Marktwirtschaft unbezahlbar gewordenen Wohnungen verloren haben und nun auf der Straße dahinvegetieren? So wie sie der Fotograf in seiner Heimatstadt Charkow in Serie porträtierte?
Die Risiken jenes Arbeiterwohlfahrtsstaates, dessen Terror die Tugend nicht befördern konnte, zeigen sich nun auch im nachfolgenden Kapitalismus, der den vom großen Experiment geschwächten Menschen grausam in aller Öffentlichkeit bloßstellt. Ganz so, wie es Mikhailov in perfekter Verkörperung dieser neuen Ordnung tut, wenn er mitleidlos, mit gutem Geld gewappnet sowie strikten Verhaltensregeln, unliebsame Straßenbekanntschaften zu vermeiden, die Obdachlosen bittet, sich in der Öffentlichkeit zu entkleiden. Man darf sich über Boris Mikhailovs „Case History“ und den dokumentarischen Charakter seiner Farbfotografien nicht täuschen. Das Dokument erwächst aus dem Konzept. Der Schnappschuß ist der Pose gedankt, das Herzeigen einer erbärmlichen Existenz dem gebotenen Geld.
Boris Mikhailov war noch nie dafür bekannt, daß er sich um Gepflogenheiten politischer Korrektheit geschert hätte. Nur so wurde er schon zu Zeiten der noch real existierenden Sowjetunion als interessanter, aufrührerischer Konzeptkünstler bekannt. Freilich im Westen mehr als zu Hause. Schon immer manipulierte er seine Fotografien bis zur Kenntlichkeit. Zunächst verfremdete er seine Straßenfotografie mit Farbpigmenten, dann inszenierte er seine Tableaus gleich ganz: „Wenn ich Deutscher wäre“, ein sadomasochistisches Theater über den faszinierenden Faschismus vor dem historischen Hintergrund der deutschen Besetzung der Ukraine, war von radikaler Geschmacklosigkeit. 1998 wurde seine „Unfinished Dissertation“, ein Buchprojekt, das in einer komplexen Montage die allgemeine Stagnation der Breschnew-Ära offenlegte, von der Deutschen Gesellschaft für Photographie preisgekrönt.
Nach der Stagnation nun also der Erdrutsch, der die neuen Russen nach oben und den alten Sowjetmenschen nach unten reißt. Indem Mikhailov die Obdachlosen fotografiert, macht er noch einmal eine alte Rechnung mit dem verschwundenen System auf. Er kann nun abbilden, was damals verboten war: Trunksucht, Nacktheit. Und prekäre Menschenwürde. Womit Boris Mikhailov auf seine offene Rechnung mit der Gegenwart verweist.
Brigitte Werneburg
Boris Mikhailov: „Case History“. Scalo Verlag 1999, 480 S., 439 Abb., geb., 98 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen