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Ozeane aus Blut, Flüsse von Tränen

Zunächst exportierten sie Shampoos und Würste, jetzt importieren sie die russische Heimat. Die Macher der Wochenzeitung „Russkij Berlin“ wenden sich mit einem Mix aus Boulevard und Seriösität an Leser jeder Couleur  ■   Von Annette Rollmann

Viele Russen, die nach Deutschland auswandern, kommen nie hier an. Boris Feldmann und Alexander Michailow hingegen haben die Bundesrepublik längst erreicht. Feldmann, der Chefredakteur von Russkij Berlin, schrieb mit seiner Zeitungsgründung in Berlin einen Stoff, aus dem normalerweise nur die gedruckten Träume in der Yellow press sind: Vor knapp drei Jahren gründete er das Blatt und machte es innerhalb kürzester Zeit zur größten russischsprachigen Wochenzeitung in Deutschland. Jetzt hat die Zeitung eine Auflage von rund 50.000 Exemplaren, mit steigender Tendenz.

„Unsere Zeitung ist für die Integration der russischsprachigen Menschen in der deutschen Gesellschaft sehr wichtig“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Alexander Michailow, der selbst erst vor drei Jahren nach Deutschland gekommen ist. Allerdings mit ungewöhnlichen Voraussetzungen: Er ist Germanist und hatte in Moskau jahrelang als Journalist gearbeitet. So konnte er im Westen fast problemlos starten.

Doch viele der 2,5 Millionen russischsprachigen Immigranten, davon 100.000 in Berlin und Brandenburg, kamen lediglich mit drei Koffern und viel Hoffnung am Bahnhof an. Ihre Sprachkenntnisse sind meist gerade ausreichend für den Gemüsehändler nebenan, für die Ausübung ihres alten Berufes reichen sie selten.

„Die Integration der Russen in Deutschland ist viel schlechter als die der Türken“, sagt Michailow, der nicht dem Bild eines russischen Haudegens entspricht, sondern zurückhaltend freundlich, fast zart wirkt. Er erzählt von ehemaligen Professoren, die nun in Deutschland von der Sozialhilfe lebten und damit zufrieden seien und letztlich „nach einer gewissen Zeit geistig regelrecht degradieren“. Deren Interesse sei „vielfach nur noch auf die Jüdische Gemeinde oder ihre landsmannschaftlichen Treffen begrenzt, auf Schnäppchen beim Sommerschlußverkauf und auf Telefonate ab 21 Uhr zum verbilligten Tarif“, sagt er, der selbst in Berlin mittlerweile viele Menschen außerhalb der russischen Community kennt. Es bestehe eine große Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen in ihrer Heimat erzählen, und dem, wie es ihnen in Deutschland tatsächlich ginge, findet Michailow: „Da unterscheiden sich Russen und Amerikaner wenig. Bei beiden Völkern gilt der Erfolg. Sonst ist man ein Versager.“

Die Sozialarbeiterin des nicht politisch ausgerichteten Clubs Dialog e.V., Deutsch Russisches Beratungs- und Begegnungszentrum in Berlin, Christin Leithold, vermutet hingegen, daß Russkij Berlin neben den bunten Geschichten vor allem auch wegen des ausführlichen russischsprachigen Fernsehprogramms so beliebt sei. Die Immigraten können die russischen Sender via Satellit empfangen. „Bisweilen ist das für die Menschen oft die einzige Informationsquelle“, so die Erfahrung der Sozialarbeiterin, die mit ihrer Sozialstation den Start in Deutschland bei Wohnungs- und Arbeitssuche zu erleichtern versucht. Ihr falle immer wieder auf, daß die meisten Immigranten nicht gut informiert seien.

Russkij Berlin, das außerhalb Berlins als Russkij Germania erscheint, dagegen ist ein Mix aus Boulevard- und seriöser Zeitungssprache, berichtet über Sex and Crime, schreibt über Politik und Geschichte nicht nur Deutschlands, sondern auch der Länder, die zur ehemaligen Sowjetunion gehörten. Die russische Seele ist in der Zeitung nicht zu übersehen. Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts werden als Ozeane aus Leiden und Blut, Wüsten menschlicher Vernichtung und Lügen, Berge von Leiden und Flüsse von Tränen beschrieben.

Den Grund für die steigende Auflage sehen die Macher der Zeitung aber vor allem im Blattkonzept. Im Gegensatz zu vielen anderen russischsprachigen Medien, die in Deutschland erscheinen, wende sich Russkij Berlin sowohl an die emigrierten Juden wie auch an die sogenannten Rußlanddeutschen. Die Konkurrenz habe meist nur eine Lesergruppe einer bestimmten politischen Haltung oder einer Bildungsschicht im Blick, erklärt Michailow. Europa Zentrum beispielsweise, das mit seinem sechsjährigen Bestehen die älteste russischsprachige Zeitung in Deutschland ist und ebenfalls in Berlin erscheint, bemüht sich um einen intellektuellen Anstrich. Eine andere Wochenzeitung, Caravan International, ist in erster Linie eine Familienzeitung für Spätaussiedler. Zudem scheinen die Macher von Caravan International unter Professionalität etwas anders zu definieren, als man das gewöhnlich in der Branche tut. Redakteur Woldema Fink: „Wir schreiben gerne Geschichten, wie uns der Schnabel gewachsen ist.“

Doch so professionell Russkij Berlin gemacht ist, so sehr geht auf der anderen Seite der boulevardeske Anstrich der Zeitung bisweilen auf Kosten der Genauigkeit, kritisieren die verschiedenen Anlaufstellen für Immigranten. „Das Blatt weckt immer wieder falsche Begehrlichkeiten“, moniert Anat Bleiberg von der Sozialstation von der Jüdischen Gemeinde. „Gerade wenn es um rechtliche Dinge wie Renten oder Staatsangehörigkeit geht, stimmen die Zusammenhänge nur zur Hälfte“, kritisiert sie. Oft würden die Immigranten das auch gegen die Jüdische Gemeinde selbst wenden. „Seht her, was andere für uns erreichen“, hieße es dann schnell. „Dennoch, Russkij Berlin ist für viele eine Stück Zuhause.“

Und so sieht das auch die 72jährige Evgjenia Fränkel. Sie kam vor drei Jahren zusammen mit ihrem Mann aus Moskau nach Berlin. Für sie sei das größte Problem trotz der Sprachkurse, die sie besucht habe, nicht richtig deutsch zu sprechen. Selbst in der Wahl der Ärzte seien ihre Möglichkeiten sehr begrenzt. „Ich kann nur die auswählen, die meine Sprache können“, klagt sie. Das enge das Leben in der neuen Heimat ein. Doch auf Russkij Berlin, ihr Hausblatt, läßt die eifrige Leserin nichts kommen: Die Berichte über Ausstellungen in Berlin interessierten sie, das Fernsehprogramm, die Anzeigen über Jobs zum Putzen und vor allem die Rubrik mit den Neuankömmlingen, die ihre Lebensgeschichte dort niederschrieben. „Das bin auch immer ein bißchen ich selbst“, sagt sie. Doch mit dem nächsten Satz bestätigt sie die Einschätzung der Hilfsorganisationen, daß viele Immigranten schlecht informiert seien: „Von Politik habe ich keine Ahnung.“

Natürlich gehören Chefredaktion und Geschäftsführung von Russkij Berlin selbst, vor allem Feldmann und sein Bruder Dimitri, nicht zu den Immigrantenverlierern. Nachdem die beiden Brüder 1992 zusammen mit ihren Familien wegen antisemitischer Verfolgung aus der Hauptstadt Lettlands, Riga, emigrierten, öffneten sie in Berlin einen Exporthandel für Shampoos und Würste. „Als wir genug verdient hatten, gründeten wir die Zeitung“, sagt der 43jährige Chefredakteur verschmitzt. Schon in Riga hatte er bei der Komsomol-Zeitung als Leiter des Wirtschaftsressort gearbeitet. „Doch Jude und Antikommunist zugleich zu sein, daß war in den Zeiten damals zuviel“, erinnert er sich. Aber in seinen hellwachen lebendigen Augen spiegelt sich sein Schicksal nicht als Trübsinn wider. Er ist jemand, der nach vorne schaut. „Als es die Möglichkeit gab, sind wir gegangen.“ Obwohl er hierbleiben will, spricht Michailow von großem Heimweh, das er bisweilen habe. Doch er ist ein Diplomat in eigener Sache und formuliert sein Gefühl von alter und neuer Heimat für einen Mann, der erst in der Mitte seines Lebens sein Land verließ, sehr versöhnlich: „Deutscher werde ich nie, aber ein integrierter Ausländer.“

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