: In 240 Zahlenspielen um die Welt
■ Wenn Wirklichkeit die Kunst einholt: Ingo Günthers Video-Installationen der frühen 90er Jahre thematisieren Flüchtlingselend, Krieg und Machtinteressen. Das Museum Weserburg zeigt die erste Retrospektive des Künstlers
Wichtige Fragen gibt's: Wie würde wohl eine Meeresschnecke oder ein Rochenkind der Sekundarstufe zwei die Weltkarte zeichnen? Jede Bergkette, jede Kluft auf dem tiefen Grunde des Ozeans wäre genauestens vermessen. Das aber, was Menschentieren wichtig ist – Amerika, Asien, Afrika... – wäre auf dem Meeresschneckenglobus ein langweiliger, amorpher Fleck. Ist doch den Geschöpfen des Meeres egal, wo Wildnis oder Wüste waltet. „Die Welt ist das, was der Fall ist“, zitiert Günther Ludwig Wittgenstein auf einem Exemplar seiner auf stolze 240 Stück angeschwollenen Globen-Sammlung. Aber der Fall ist eben immer mehr, als Vorurteile und Medien wissen. Deshalb ist Günther ein geduldiger Jäger und Sammler von Fällen – meist in Form von Zahlen und Daten. So klärt er den Betrachter mittels billiger Instant-Plastikgloben nicht nur über die Bodenbeschaffenheit der Weltmeere auf, sondern auch über Dinge von viel offensichtlicherer Relevanz: Finanzströme, Bevölkerungsdichte, Bürgerkriege, Attentate, Treibhauseffekt.
Eine isolierte Zahl ist stumm. Erst im Bezug zu einer anderen fängt sie an zu sprechen. Auf einem seiner Globen verweist Ingo Günther schalkig auf die universelle Vernetzung von allem mit jedem und dem Ganz-dem-anderen und dem Abwegigsten. Da unterbreitet er keck, mit einem wilden Gitter aus Worten und Pfeilen, der Soziologenzunft einen Vorschlag: Man möge doch mal bitteschön den Zigarettenkonsum mit der Häufigkeit von Badezimmerspiegeln in den verschiedenen Ländern vergleichen oder den Zusammenhang erforschen zwischen Waffenproduktion und Auslandsreisen oder Selbstmordrate und Durchschnittseinkommen oder Stolz und Drogengebrauch oder Glücksquote und Anzahl neuer Erfindungen oder... Und siehe da: Wer derzeit in Bremen im Neuen Museum Weserburg eine lange Zeile von zwei Dutzend Günther-Globen abwandert, dem offenbart sich die Welt. Und zwar als eine verteufelt ungerechte. Das Ozonloch, das der Westen produziert, verbrennt den Bewohnern anderer Nationen die Haut. Die Tretminen, die der Westen vertickt, ticken in anderer Völker Erde. Und in den Arabischen Emiraten, wo die Lebensstandardbalken am fettesten emporschießen, wohnen die wenigsten Leute. Wußte man natürlich immer schon. Es zu sehen, ist dann aber eben doch noch mal gewaltig anders. Gerade jetzt, wo der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit auf den Balkan zoomt und der Rest der Erde vergessen wird.
Seit 1992 tüftelt der eher in Projekten als konventionell in Serien arbeitende Künstler an der Idee einer Flüchtlingsrepublik. Und so tapst der Kunstkonsument direkt unterm Dach der Weserburg im Dunkeln über am Boden aufgemalte Ländergrenzen – unsicher, unter Sturzgefahr und immer ein wenig orientierungslos: Verdammt, ist das jetzt Tschechien oder Bulgarien? Und gibt es denn auch da Flüchtlinge? Rote, schwebende Neonröhren erzählen von 23 Millionen offiziellen Flüchtlingen, die sich – so Günthers Vorschlag – verbrüdern sollten. Aber zu welchem Zwecke? Naja, jede Utopie hat ihre weißen Stellen.
Daß Ingo Günther sich der Wirklichkeit hart an die Fersen klemmt und manchmal sogar auf ihrem Zehennagel hockt ist nicht neu. Bilder aus dem Irak schleppte er an, kurz vor Saddams Einmarsch in Kuwait. Und in seinem Pamphlet für eine Flüchtlingsrepublik aus dem Jahr 1993 heißt es: „Es ist heute leichter denn je, einen Krieg zu beginnen und schwieriger als je zuvor, ihn zu beenden.“ Warum ist dieser Mann eigentlich nicht Bundeskanzler? Immerhin arbeitet er gelegentlich als Journalist. Und ab 1984 verkaufte er in New York zusammen mit Künstlerkollegen Peter Fend Satellitenbilder ans TV und an Nachrichtenagenturen. Darauf zu sehen waren zum Beispiel amerikanische Militäreinrichtungen in Honduras und sowjetische Truppenbewegungen in Afghanistan. Noch regiert das Vorurteil, daß Kunst dumm und flach wird, wenn sie sich der Politik nähert oder gar mitmischen möchte. Günther widerlegt es. Barbara Kern
Bis 11. Juli im Neuen Museum Weserburg zu sehen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen