: Wenn die Blitze im Gehirn zucken
Was passiert, wenn in einem Flugzeug in großer Höhe plötzlich der Druck abfällt und die Sauerstoffmasken nicht richtig funktionieren? Alle Passagiere erleiden einen epileptischen Anfall ■ Von Claudia Borchard-Tuch
Ein epileptischer Anfall kann jeden treffen, sei es durch Sauerstoffmangel, Giftwirkung oder anderes. Von einer Epilepsie spricht man jedoch erst, wenn die Anfälle unprovoziert und wiederholt auftreten. Die Liste berühmter Epileptiker ist lang. Sie reicht von Schriftstellern wie Fjodor Dostojewski, Charles Dickens, Agatha Christie über Staatsmänner wie Napoleon, Alexander den Großen, Julius Cäsar bis hin zu Künstlern wie van Gogh, Leonardo da Vinci, Michelangelo und Georg Friedrich Händel.
Die Epilepsie gehört zu den häufigsten chronischen Krankheiten überhaupt: Weltweit sind 40 Millionen Menschen betroffen, und allein in Deutschland sind es fast eine Million. Ein großer epileptischer Anfall ruft meist Bestürzung und Entsetzen hervor. Plötzlich verliert jemand das Bewußtsein, stürzt zu Boden, und seine Arme und Beine zucken unkontrolliert. Vor dem Mund kann blutiger Schaum zu sehen sein.
Ursache des Anfalls ist eine Salve von Stromstößen im Gehirn. Mehrere Nervenzellen entladen sich alle zur gleichen Zeit und senden ihre elektrischen Impulse an andere Teile des Gehirns und aktivieren sie. Obwohl die Epilepsie Ausdruck von vielen unterschiedlichen Hirnerkrankungen sein kann, von Entzündungen, Verletzungen, Geschwülsten oder Durchblutungsstörungen, erscheint das Gehirn auch oft vollkommen gesund. Manche Anfälle werden nicht einmal von dem Betroffenen selber bemerkt oder als Träumerei fehlgedeutet: Absencen, kleine Anfälle ohne Krämpfe, sind kurze Momente der Abwesenheit. Eine Tätigkeit wird plötzlich unterbrochen und hinterher einfach fortgeführt, als ob nichts passiert wäre. Bei einer fokalen Epilepsie zuckt möglicherweise nur ein Körperglied.
Epilepsie gehört nicht zu den Geisteskrankheiten
Epilepsiekranke Menschen werden häufig beruflich und sozial ausgegrenzt – dabei ist die Epilepsie keine Geisteskrankheit, wie etwa 20 Prozent der Deutschen annehmen. Zwischen den Anfällen verhält sich ein Epilepsiekranker wie ein Gesunder. Mit frühzeitiger und korrekter Behandlung kann bei fast zwei Drittel der Patienten eine Anfallskontrolle erreicht werden. Hierzu muß aber die jeweilige Epilepsieform richtig diagnostiziert werden.
„Doch bereits bei der Anamnese, dem Zusammentragen der Krankengeschichte, wird viel gesündigt“, stellt Dieter Janz, ehemaliger Direktor der Neurologischen Uni-Klinik Berlin-Charlottenburg, fest. Auch Menschen in der Umgebung des Patienten müssen befragt werden. „Epilepsie-Anamnese ohne Fremdanamnese ist ein Kunstfehler“, sagt Janz. Das Elektroenzephalogramm (EEG) mißt die elektrischen Hirnströme über der Schädeldecke und kann eine gesteigerte Aktivität sichtbar machen. Ein normales EEG schließt jedoch eine Epilepsie nicht aus: 15 Prozent der Epilepsiepatienten zeigen keine EEG-Veränderungen! Neben dem EEG spielen in letzten Jahren verstärkt bildgebende Verfahren wie die Computertomographie und die Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) eine Rolle. Mit Hilfe der Magnetoencephalografie (MEG) werden magnetische Wellen erfaßt, die um die elektrischen Hirnströme entstehen. Bis zu fünf Zentimeter unter der Hirnrinde liegende Nervenverbände von zwei Millimetern Größe können so auseinandergehalten werden.
Die Therapie muß damit beginnen, die Auslöser der Epilepsie auszuschalten – häufig sind es Streß, Schlafmangel, Alkohol oder Flimmerlicht. Nach Meinung von Janz kann „es bei einer beginnenden Epilepsie mit bislang nicht mehr als zwei oder drei Fällen möglich sein, durch eine veränderte Lebensführung auf Dauer anfallsfrei zu bleiben“. Der Beginn einer medikamentösen Therapie ist eine Entscheidung dafür, daß ein Patient für mindestens drei bis fünf Jahre regelmäßig Medikamente einnimmt. Die Arzneimittel heilen nicht, sondern unterdrücken nur die Anfälle. Ein plötzliches Absetzen eines Medikaments kann lebensgefährlich sein: Das Gehirn, gewöhnt an die beruhigende Dosis, kann mit schwersten, nicht mehr zu unterbrechenden Krampfanfällen reagieren.
Seit Anfang der 90er Jahre sind neue antiepileptische Medikamente mit geringeren Nebenwirkungen zugelassen. damit geriet auch die sogenannte „ketogene Diät“ an den Rand des Interesses. Dabei ist es eine alte Beobachtung, daß während des Fastens die Zahl zerebraler Anfälle abnimmt. Die ketogene Diät ist eine Anfang der 20er Jahre in den USA entwickelte Diät, die durch eine starke Einschränkung der Zufuhr von Kohlenhydraten den Körper dazu bringt, sogenannte Ketonkörper zu bilden. Diese Ketonkörper sind kleine, unvollständig verbrannte Fettsäurereste, die eine anfallshemmende Wirkung entfalten können.
Etwa 30 Prozent der Epilepsie-kranken helfen weder ketogene Diät noch Medikamente. Bei bis zu einem Drittel davon sind chirurgische Methoden erfolgreich. Die technischen Möglichkeiten der Hirnchirurgie haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Durch sehr genaue Verfahren ist es möglich, den übererregbaren Nervenzellverband mit einer Genauigkeit von wenigen Millimetern einzugrenzen. Das minimiert das Risiko, daß zu viele gesunde Hirnzellen weggeschnitten werden, und ist von großer Bedeutung, da der Herd, der den Anfall auslöst, oft unmittelbar am Gedächtnis oder Sprachzentrum anliegt.
Patienten, denen herkömmliche Methoden nicht ausreichend helfen können oder bei denen sie nicht in Betracht kommen, könnten neue Verfahren helfen. Am 16. November 1988 fand in den USA die erste Implantation eines Systems statt, das den Vagusnerven stimuliert. Die 37 Jahre alte Patientin, die seit 22 Jahren unter Anfällen litt, wurde nahezu anfallsfrei. Seither wurden über 3.400 Patienten weltweit implantiert. Bei etwa der Hälfte der Patienten verringern sich die Anfälle, manche Patienten werden sogar anfallsfrei. In Deutschland wird das Verfahren von Christian Erich Elger an der Bonner Klinik für Epileptologie angewandt.
Der Vagusnerv ist der zehnte Hirnnerv, der aus dem Gehirn weit fort in den übrigen Körper zieht. Wahrscheinlich hemmt der Vagusnerv die übererregbaren Hirnzellen, die für den epileptischen Anfall verantwortlich sind. Wird der Vagusnerv stimuliert, beruhigt er den epileptischen Herd und verhindert so einen Anfall. Neurochirurgen befestigen zunächst kleine Elektroden am linken Vagusnerven, der in der Tiefe der linken Halsseite liegt. Über diese Elektroden wird der Vagusnerv in regelmäßigen Abständen gereizt.
Implantierte Elektroden stimulieren den Vagusnerv
Das Reizgerät, ein Generator mit Batterie, hat die Größe einer Taschenuhr und wird wie ein Herzschrittmacher in einer Hauttasche unter dem linken Schlüsselbein implantiert. Nach der Operation trägt der Patient immer einen Magneten bei sich, mit dem er das System ein- und ausschalten, aber auch zusätzliche Stimulationen auslösen kann, wodurch manche Patienten einen Anfall unterbrechen können. Die Stimulation des Vagusnerven erfolgt rund um die Uhr alle fünf Minuten für 30 Sekunden. Unabhängig von der Verbesserung der Anfallshäufigkeit verbessert sich zumeist die Lebensqualität – die Patienten fühlen sich einfach wohler.
Durch Bestrahlung des epileptischen Herdes gelang es Hermann Stefan von der Neurologischen Klinik der Uni Erlangen-Tübingen, einen Patienten, dem Medikamente nicht zu helfen vermochten, von seinen Anfällen zu befreien. Nach einem Unfall litt Martin Kluge (Name geändert) an einer schweren Epilepsie. Obwohl Medikamente Häufigkeit und Dauer seiner Anfälle verringerten, wurde er nicht anfallsfrei. Eine Operation wäre zu riskant gewesen: Der Patient litt an schweren Erkrankungen von Niere und Bauchspeicheldrüse, und der anfallsauslösende Herd befand sich zudem in unmittelbarer Nähe wichtiger Hirnzentren, die durch eine Operation gefährdet gewesen wären. Mit Hilfe der Magnetoencephalografie, die die von den überregbaren Nervenzellen ausgesendeten magnetischen Strahlen sichtbar machte, konnte Professor Stefan den Herd zunächst sehr genau lokalisieren. Durch ein modernes Bestrahlungsverfahren wurden die Strahlen dann in Millimetergenauigkeit auf diesen Herd eingestellt. Die niedrig dosierte Bestrahlung führte nicht zu einer Zerstörung der Nervenzellen, sondern stellte sie lediglich ruhig. Der Patient, der vorher drei große Anfälle im Monat hatte, wurde anfallsfrei.
Die Hormontherapie ist nur für Frauen geeignet
Weniger invasiv ist eine nur für Frauen bestimmte Methode. So bemerken viele Frauen, daß sich ihre Anfälle vor und während der monatlichen Regelblutung häufen. Ihnen könnte eine neue hormonelle Behandlungsmethode helfen. Eine Gruppe weiblicher Geschlechtshormone – die Östrogene – aktivieren die Hirnzellen und können Krampfanfälle fördern, während eine andere Gruppe – die Gestagene – beruhigend wirken und Krampfanfälle verhindern.
Besonders viele Östrogene finden sich zum Zeitpunkt des Eisprungs im Blut, besonders wenige Gestagene vor der monatlichen Regelblutung. Dies sind Zeiten des Zyklus, in denen eine Frau anfälliger für einen epileptischen Anfall sein kann. Die Hormonschwankungen können auch die Wirksamkeit antiepileptischer Medikamente beeinflussen. Eine Hormontherapie, bei der ein Gestagen oder ein Hormon zugeführt wird, das die hormonellen Schwankungen während des Zyklus ausgleicht, kann epileptische Anfälle verhindern.
Letztendlich sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen ist das Motto einer Tübinger Forschungsgruppe unter der Leitung des Arztes und Psychologen Boris Kotchoubey. Der Epilepsiepatient lernt, seine Hirnwellen willentlich zu beeinflussen und bei den ersten Anzeichen eines drohenden Anfalls diesen zu unterdrücken. Das Lernen geschieht mit Hilfe von Biofeedback, der Rückmeldung der eigenen Gehirnströme, die gemessen und auf einem Computerbildschirm sichtbar gemacht werden – durch eine kleine Rakete, die bei aktivierten Hirnströmen nach oben und bei gehemmten nach unten fliegt. In 20 bis 40 ambulanten Sitzungen lernt der Patient durch mentales Training, seine Hirnwellen bei Aufleuchten des Buchstaben „B“ zu hemmen und bei „A“ zu aktivieren. Indem er später bei den ersten Anzeichen eines drohenden epileptischen Anfalls intensiv an B denkt und so seine Hirnwellen beruhigt, unterdrückt der Patient den Anfall. Die Methode ist sehr erfolgreich: Zwei Drittel der Patienten können ihre Anfälle schließlich deutlich verringern oder sogar völlig kontrollieren.
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