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Auf die Füße treten verboten

Luxemburg ist das kleinste und ruhigste Mitglied der Europäischen Union. Ein Musterstaat, in dem es kaum Arbeitslosigkeit und keine Inflation gibt. Aber um so engere Seilschaften, politische und gesellschaftliche. Solche, die dafür sorgen, daß keine Skandale und Korruptionsfälle diskutiert werden. Ein Besuch in diesem Land  ■ von Heike Haarhoff

An diesem Schild führt kein Blick vorbei: La Banque Internationale à Luxembourg vous souhaite la bienvenue steht darauf zu lesen mit protzigen Lettern am Ausgang des Bahnhofs. Nicht Großherzog Jean, das Staatsoberhaupt, heißt die Gäste am Luxemburger Bahnhof willkommen, auch nicht das Konterfei von Jean-Claude Juncker, dem Regierungschef, den man schon mal im Fernsehen auf EU-Gipfeln sehen kann.

Es ist ein Kreditinstitut, fünfzehn Filialen allein in der Innenstadt, das die Ankommenden in Luxemburg begrüßt.

Ein Klischee, gewiß, aber alles andere wäre wohl auch enttäuschend. Luxemburg und die Banken, das ist wie Düsseldorf und Altbier, immer noch, und das, obwohl bald ein Jahrzehnt liegt zwischen meiner ersten Begegnung mit dem Zwergenland an der Mosel und heute. Als Anfang der neunziger Jahre der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel Steuern auf Erspartes erhob, kamen Kurztrips in das hügelige, kurvenreiche Motorrad- und Finanzparadies auf der anderen Seite der Pfalz bei deutschen Großkontoinhabern sehr in Mode. Zur Filiale der Deutschen Bank führte eine eigene Autobahnausfahrt, und im Inneren des halbrunden Baus mit der Empore und dem Marmor durfte man den gläsernen Aufzug auch in schlichter Popelinejacke benutzen.

Felix Braz hatte am Telefon über dieses erste Bild gelacht. „Kommen Sie nach Esch, ich erzähle Ihnen was über unser Land und unseren Wahlkampf, der gar nichts mit Banken zu tun hat“, bot sich der parlamentarische Sekretär von Déi Gréng an, was auf luxemburgisch „Die Grünen“ heißt. „In welchem Stadtteil liegt das?“ – „Pardon, Madame, Esch, 25.000 Einwohner, ist die zweitgrößte Stadt unseres Landes.“ Zwanzig Minuten dauert die Fahrt von Luxemburg, der Stadt, nach Esch im Süden von Luxemburg, dem Land, nahe der französischen Grenze.

Zwanzig Minuten, die sich hinziehen wie ein Kinostreifen aus den fünfziger Jahren: vorbei an graubeige verputzten Einfamilienhäuschen, in deren Gärten Wäsche baumelt und Frauen im knielangen Rock und Schürze Unkraut jäten. Bis in die siebziger Jahre sorgte die Region um Esch mit ihrer Stahlindustrie und den Eisenerzminen für wirtschaftliche Stabilität und materiellen Wohlstand im 420.000-Einwohner-Land. Nach dem Siechtum dieser Industrien haben diese Rolle die Banken übernommen.

Den Lebensstil einer ganzen frühpensionierten Arbeitergeneration hat die Geldwirtschaft nicht berührt. Der Escher Bahnhof gleicht einer besseren Berliner S-Bahn-Station. Bis in die Fußgängerzone sind es fünf Minuten. Samstags um halb fünf haben die Geschäfte noch geöffnet. Einzelhändler mit Weingummis in den Auslagen sind die Geschäftsnachbarn internationaler Parfümerieketten, daneben befinden sich Boutiquen, die französische Namen tragen und Miederwaren wie bei Woolworth feilbieten.

Doch Muße für einen Bummel bleibt ohnehin nicht. Die örtliche Blaskapelle marschiert soeben in voller Montur auf und kassiert Spenden von großzügigen Passanten. An einem kleinen Stand in der Mitte der Fußgängerzone steht Felix Braz – 33 Jahre, Jeans, Sakko – hinter dem grünen Sonnenblumenplakat und hofft auf bessere Zeiten.

Auf einen heißen Wahlkampf beispielsweise. Aber der läßt sich bei einer Arbeitslosenquote von drei Prozent, einer kümmerlichen Inflationsrate und Mindestlohnempfängern, die europaweit den höchsten Lebensstandard genießen, so schwer inszenieren. Seit fünfzehn Jahren, seit drei langen Legislaturperioden, herrscht die Große Koalition aus Sozialistischer Arbeiterpartei und Christlich-Sozialer Volkspartei. Letztere stellt mit Jean-Claude Juncker, dem Duzfreund Helmut Kohls, den Premierminister.

Und so wird es auch nach dem 13. Juni bleiben, glaubt man den Prognosen. Wie immer zeitgleich mit der Europawahl wird Luxemburg an diesem Tag auch über die neue Zusammensetzung seines eigenen, sechzigköpfigen Parlaments entscheiden. „Wenn in Luxemburg keine Wahlpflicht herrschte, ginge wahrscheinlich kaum noch jemand hin“, sagt Jacques Drescher von der wöchentlich erscheinenden Satirepostille Feierkrop (“Feuerhaken“). Strittigstes Wahlkampfthema ist die Streckenführung einer Straßenbahn durch die schmucke Luxemburger Altstadt. Daneben beschäftigt dieses Land die Frage, ob die Renten im öffentlichen Dienst – bis vor kurzem fünf Sechstel des letzten Gehalts – nochmals geringfügig abgesenkt werden sollten. So könnte der protestierende Privatsektor besänftigt werden, der sich nicht damit abfinden will, daß ein Handwerker im Staatsdienst am Ende seiner beruflichen Karriere auf ein Gehalt von achttausend Mark kommt.

1994 gelang es einer nationalistisch-konservativen Wählervereinigung namens „Aktionskomitee für Demokratie und Rentengerechtigkeit“, ins Parlament einzuziehen. Sie witterte nicht nur Ungerechtigkeiten, sondern auch verfilzte Strukturen im Beamtensystem. Gemeinsam mit den Grünen und der größten Oppositionsfraktion, den Liberalen, wurden private Kontoauszüge von Staatsdienern zutage gefördert. Die Vermutungen bestätigten sich: Leitende Beamte aus Ministerien hatten ihr Einkommen mit falschen Rechnungen und Schecks, die eigentlich der Staatskasse zugute kommen sollten, heftig aufgebessert.

Dieses System der Seilschaften, räumen selbst Anhänger der Christsozialen ein, konnte sich über Jahre unentdeckt halten, weil die meisten ihrer Mitglieder direkt oder indirekt darin verstrickt sind. Ein System, das Blaskapellen und Schützenvereine hervorbringt, aber keinen Protest gegen den Krieg im Kosovo. Auf der Höhe des Skandals, von der Regierung zu „Dysfunktionen im Staatshaushalt“ kleingeredet, trat im Januar vorigen Jahres der sozialistische Gesundheitsminister Johnny Lahure wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zurück. Karitative Einrichtungen hatten staatliche Zuwendungen erhalten, aus denen aber Angestellte bezahlt wurden, die tatsächlich im Ministerium arbeiteten. Private Krankenhäuser bezahlten mit Zuwendungen aus dem Staatshaushalt Rechnungen, die auf das Ministerium ausgestellt waren.

Die Polizei klassifizierte zwei Brände im Archiv der Sozialversicherung als Brandstiftung. Anderthalb Wochen nach dem Rücktritt des Ministers beging der Hauptbuchhalter des Gesundheitsministeriums, Jean-Joseph Moersch, Selbstmord. Geschadet hat es dem Ansehen der Sozialisten wenig; die Christlichen verteidigen ihren Koalitionspartner weiterhin uneingeschränkt. Dessen Parteichef Jean Asselborn weiß genau, warum seine Sozialisten wenig zu fürchten haben: „Luxemburg ist klein. Politiker in Luxemburg wollen anderen nicht weh tun.“

Im Gegenzug findet es der Sozialist wenig anstößig, daß die Christsozialen den erst kürzlich zurückgetretenen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Santer wie selbstverständlich als Europaspitzenkandidaten präsentieren. Und daß kurz vor Pfingsten der Präsident des luxemburgischen Rechnungshofes wegen einer windigen Finanzgeschichte vom Dienst suspendiert wurde, eh oui, ça arrive. Man lebt damit.

Auch die Presse, notgedrungen. In Luxemburg gibt es weder Informantenschutz noch behördliche Auskunftspflicht. Hinzu kommt, daß es kaum möglich ist, einen Schritt unbemerkt zu tun. Nicht nur, daß sich von den zahlreichen Hochplateaus von Luxemburg-Stadt das Leben in den „Unterstädten“ der engen Täler und Schluchten bestens kontrollieren läßt. Es gibt wenige Orte, an denen man sich zu einem politischen Hintergrundgespräch ungestört treffen könnte.

Es ist sommerlich warm an diesem Pfingstmontag, aber die „Terrassen“, wie die Luxemburger ihre Straßencafés nennen, scheinen allesamt geschlossen. Eine Stunde dauert es, bis Rob Roemen, Mitglied der Liberalen und Chefredakteur des parteieigenen Letzeburger Journal, fluchend und schwitzend dann doch noch eine Terrasse ausfindig macht. „Die haben nur noch auf, wenn die Banken geöffnet sind“, schimpft er. Sonntagsarbeit ist im katholischen Luxemburg nicht geschätzt – weder in der Gastronomie noch unter Druckern, weswegen Roemens Tageszeitung montags und nach Feiertagen nicht erscheinen kann.

Roemen ordert Weißwein. Die Bedienung versteht ihn nicht. Er muß von der Nationalsprache Luxemburgisch in die Amtssprache Französisch wechseln. Das ärgert ihn. Vier Jahre deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs hin oder her, lieber spräche er noch Deutsch in der zweiten Amtssprache, die ist dem Luxemburgischen, einer Art pfälzischer Dialekt, näher. „Das Problem ist,“ sagt er dann, „daß es hier sehr viele Fremdarbeiter gibt, die nur noch Französisch können.“ Siebzigtausend „Grenzgänger“ pendeln täglich nach Luxemburg zur Arbeit, die meisten kommen aus Belgien oder Nordfrankreich. Sie machen die Jobs, die Luxemburger ungern übernehmen – kellnern für dreitausend Mark im Monat beispielsweise. Roemen will zu einer umfassenden politischen Analyse ausholen, als ihm einfällt: „Sie hatten mich etwas gefragt.“ Richtig. Also noch einmal: Was würde sich ändern, wenn die Liberalen an die Regierung kämen? Da stutzt er einen Moment. Und antwortet mit der Ehrlichkeit, wie es sie nur in Schrecksekunden gibt: „Nicht viel.“

Aber es gehe ja auch gar nicht so viel um Inhalte, sondern um Personen, „nach fünfzehn Jahren müssen neue Leute her“.

Ach was, ärgert sich derweil an seinem Stand in Esch der wahlkämpfende Grüne Felix Braz, die beiden Regierungsparteien – „das ist wie Speck- und Schweinefleisch“. Dabei sind die Grünen nicht völlig chancenlos. Seit 1994 stellen sie fünf der sechzig Abgeordneten im Parlament. „Unter fünf Leuten ist nur eine Frau.“ Braz klingt bekümmert. Die Verantwortung dafür trägt seiner Ansicht nach „der Wähler“. Der entscheidet in dem komplizierten Wahlsystem des „Panaschierens“ mit seinen insgesamt 23 Stimmen nicht nur über die Prozente der verschiedenen Listen, sondern auch über deren personelle Zusammensetzung. „Der Wohlstand“, urteilt eine Redakteurin der größten Tageszeitung Luxemburger Wort, „konserviert die Gesellschaft.“

Und die hält bis heute den heimischen Herd für den besten Platz für Frauen. Dreitausend Mark monatlich kostet die Unterbringung von zwei Kleinkindern in der Kindertagesstätte, was selbst für Luxemburger ein Vermögen ist. Verglichen damit ist der Anteil der erwerbstätigen Frauen erstaunlich hoch. Der Anspruch auf Erziehungsurlaub wurde erst in diesem Jahr gesetzlich festgeschrieben. In Luxemburg scheint nichts ferner als Europa. Eine schäbige, nicht enden wollende Autobrücke ist Grenze und Verbindung zwischen der Altstadt, ihren Sandsteinpalästen, Plätzen mit nie versiegenden Springbrunnen, graffitifreien Giebelgebäuden und anderen Postkartenmotiven einerseits und der europäischen Moderne andererseits auf dem Plateau de Kirchberg, wie das EU-Viertel heißt.

Es geht das böse Gerücht, daß die hohen Plexiglasscheiben entlang der Brücke nicht zur Abwehr des Lärms installiert wurden, sondern um zu verhindern, daß sich noch mehr Selbstmörder von hier in die Tiefe stürzen. Man mag sie verstehen: Im Zentrum Europas herrscht eine Atmosphäre wie auf einem verlassenen Messegelände, auf dem sich zuletzt Bestattungsunternehmer tummelten.

Der fahnenumwehte Europäische Gerichtshof hat den architektonischen Charme der Bochumer Universität. Das Treppengeländer zum zentralen Eingang ist verrostet. Was denn, Besichtigung? Ohne vorherige Absprache nicht möglich, der Herr am Empfang beruft sich auf strikte Anweisungen. Ansonsten präsentiert sich Europa spiegelverglast. Man muß schon sehr nah an die Fenster der Atombehörde Euratom herantreten, um die Stapel dicker Kladden an die „International Atomic Energy Agency“ mit Berichten über „Nuclear Materials Accountancy and Control“ zu beäugen.

Doch was hier oder an ähnlichen Orten in Brüssel oder Straßburg entschieden wird, hat die Luxemburger selten beschäftigt. „Als der Vertrag von Maastricht diskutiert wurde, war die einzige Sorge der Menschen die Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Ausländer“, erinnert sich der Grüne Felix Braz. Darüber, daß ein Drittel der Bevölkerung plötzlich über den Bürgermeister mit abstimmen dürfen sollte, empfanden viele Unbehagen. Die weitgehende Steuerfreiheit, mit der ausländische Unternehmen wie der Reifenhersteller Goodyear oder der Mischkonzern DuPont nach Luxemburg gelockt wurden, um anschließend mit Billigung der Regierung Arbeitnehmererrungenschaften wie die Vierzigstundenwoche schrittweise aufzulösen, wird derweil hingenommen.

Auch die Luxemburger Schiffsflagge, die das Land, das über ein paar Kilometer schmaler Flußläufe verfügt, 1990 schuf, erregt niemanden. Dank einer filigranen Rechtskonstruktion lassen die meisten im Luxemburger Schiffsregister eingetragenen ausländischen Reeder ihre Mannschaften zu Billiglöhnen über die Meere fahren. Kritisch debattiert wird das nicht.

Vielleicht liegt das auch daran, daß es keine Universität gibt. Wer etwas werden will, muß für ein paar Jahre ins Ausland – und kehrt fast immer zurück. Die Enge ist gut bezahlt. Hier riecht es nach Wohlstand und Frühling. Ein Punk entsorgt den leeren Pappkarton seiner Quiche im Mülleimer, und die beiden Prostituierten daneben sehen aus, als bezahlten ihre Zuhälter ihnen regelmäßig eine Kosmetikerin. Meine Augen wandern über den Platz, suchen Details, die das Idyll verraten. Aber kein Bettler, nirgends.

Heike Haarhoff, 29, studierte in Dortmund Politologie und Journalistik. Seit vier Wochen ist sie taz-Reporterin in Berlin, davor arbeitete sie fünf Jahre als Redakteurin bei der taz in Hamburg.

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