piwik no script img

„Kerker“ feiert seinen „Häftling“

■ Städtische Galerie Delmenhorst wird 25 und zeigt neue Graphiksammlung

Hätte Fritz Stuckenberg zu Lebzeiten die Möglichkeit gehabt, Barbara Alms kennenzulernen, wohl kaum hätte er daran festgehalten, Delmenhorst als düsteren Ort zu bezeichnen, der Kerkeratmosphäre verströmt.

Denn schon im vergangenen Sommer war es maßgeblich der Initiative der engagierten Leiterin der Städtischen Galerie zu verdanken, daß Delmenhorst dem weitgehend in Vergessenheit geratenen „Sturm“-Künstlers Stuckenberg ein eigenes Museum gewidmet hat. Und nun, anläßlich des 25jährigen Bestehens der Städtischen Galerie, ist es Alms gelungen, anknüpfend an Stuckenbergs Werk das Profil ihres Hauses als vorzüglicher Adresse für die Kunst der Klassischen Moderne im norddeutschen Raum weiter zu schärfen.

Erstmals präsentiert die Galerie ihre „Graphische Sammlung“, die in den vergangenen sieben Jahren durch Ankäufe aus Nachlässen und in Auktionshäusern entstanden ist. Noch sind die großen Lücken in der mittlerweile auf 230 Papierarbeiten aus der Zeit zwischen 1908 und 1938 angewachsenen Sammlung unübersehbar. Nichtsdestotrotz vermitteln die 97 jetzt in der Galerie ausgestellten Holzschnitte, Zeichnungen, Aquarelle und Lithographien ein facettenreiches Bild einer künstlerischen Avantgardebewegung, deren Zentren in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts München und Berlin waren.

Konzeptionell orientiert sich die zeitlich chronologisch dargebotene Sammlung am Lebens- und Ar-beitsumfeld Stuckenbergs. Gesammelt wurden KünstlerInnen, die dem gebürtigen Delmenhorster persönlich nahe standen und zudem vergleichbare ästhetische Positionen vertraten. Man mag zunächst verwundert darüber sein, daß zu diesem Kreis so illustre Namen wie Wassily Kandinsky, August Macke, Kurt Schwitters, Paul Klee oder Franz Marc zählten, und dennoch Fritz Stuckenberg bis heute relativ unbekannt geblieben ist. Doch unter den 26 in der Ausstellung präsentierten KünstlerInnen finden sich neben Stuckenberg mit Gerd Meyer oder Fritz Fuhrken einige Namen, die heute kaum noch geläufig sind, ohne daß es sich mit der Qualität ihrer Arbeiten erklären läßt.

Prunkstuck der Sammlung ist eines der seltenen, sehr gut erhaltenen Exemplare der den deutschen Künstlern gewidmeten dritten Mappe des staatlichen Bauhaus in Weimar von 1921. Die in einem eigenen Raum präsentierte, mit einem von Lionel Feininger gestalteten Deckblatt versehene Mappe umfaßt zehn graphische Arbeiten, die Rudolf Bauers spannungsvolle expressiven Kompositionen ebenso umfaßt wie die kargen, figurativen Studien eines Willi Baumeister. Für Kunsthistoriker von besonderem Interesse ist ein kleines, in der Forschung bislang noch unbekanntes Exlibrisblatt, das Heinrich Campendonk 1918 für seine Frau Adda angefertigt hat und eine Frau mit Tieren zeigt.

So sehr die Farben- und Formvielfalt der gezeigten Exponate auch überrascht und somit deutlich macht, wie wenig hilfreich der Sammelbegriff „Expressionismus“ für diese heterogene Bewegung ist, so sehr fällt die übereinstimmende Geisteshaltung vieler KünstlerInnen ins Auge. Religiöse Seinsideale, tief verwurzelt in der Theosophie und Rudolf Steiners anthroposophischen Lehren, und weltumspannende, die gesamte Schöpfung umgreifende Harmonievorstellungen finden in zahlreichen Arbeiten ihren deutlichen Niederschlag.

Zwar mutet das heutzutage esoterisch und politisch einigermaßen fragwürdig an. Doch entfaltet diese Position ihren befreienden Impuls vor dem Hintergrund zeitpolitischer Konstellationen, die in den Vernichtungslagern der Nazis kulminierten. Es ist kein Zufall, daß einige der ausgestellten Künstler dort ihren Tod fanden. Franco Zotta

Die Graphische Sammlung ist bis zum 21. Juli zu sehen. Öffnungszeiten: 10-17 Uhr, donnerstags 10-20 Uhr, montags geschlossen. Infos gibt es unter Tel.: 04221/141 32Tel.: . Zur Ausstellung ist zum Preis von 48 Mark ein Katalog mit 85 ganzseitigen farbigen Abbildungen und kunsthistorischen Beiträgen erschienen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen