: „Den Flug wird sie überleben“
Kranke Kurdin mit ärztlicher Hilfe abgeschoben. Ärztekammer hält dies für ethisch nicht vertretbar. Rot-Grün sucht Koalitionsgespräch ■ Von Elke Spanner
Mit zügigen Schritten eilt die Amtsärztin vom Abflugterminal zum Ausgang des Flughafens Fuhlsbüttel. Ohne einen Blick auf die weinenden Angehörigen von Nikar Selcuk, die fassungslosen FreundInnen und die BGS-BeamtInnen, die erstere davon zu überzeugen versuchen, daß „wir doch in einem Rechtsstaat leben“. Eine „menschliche Tragödie“ sei das, preßt die Ärztin kurz hervor, und daß sie „erschüttert“ sei. Gerade hat sie der Abschiebung der schwerkranken Kurdin Nikar Selcuk samt ihrer drei Kinder zugestimmt. Gestern nachmittag wurden sie gewaltsam nach Istanbul verbracht.
Völlig überraschend hatten PolizistInnen die Familie frühmorgens aus dem Bett geholt. Noch am Montag war der Kurdin von der Ausländerbehörde ihre Duldung bis Mitte Juli verlängert worden. Denn Selcuk leidet unter schweren Depressionen. Nachdem vor einem Jahr ihr Mann starb, begab sie sich in therapeutische Behandlung. Für deren Dauer sagte die Ausländerbehörde die Duldung zu – die sie gestern schlicht widerrief.
Denn Krankheit und ärztliche Atteste kümmern Hamburgs Abschieber nicht mehr. Vor zwei Wochen war ein internes Papier der Innenbehörde bekannt geworden, in dem diese vorschlug, bei der Abschiebung kranker AusländerInnen einen Arzt mit auf die Reise zu schicken (taz berichtete). Obwohl Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD), so GAL-Fraktionschefin Antje Möller, zugesichert habe, das Papier nicht umzusetzen, zieht seine Behörde die darin formulierte Linie rigoros durch. Acht Mal in den vergangenen zwei Wochen schob sie trotz ärztlicher Atteste ab. Die MedizinerInnen wurden über das Arbeitsamt angeworben. Neun ÄrztInnen stünden auf Honorarbasis zur Verfügung, so Behördensprecher Norbert Smekal.
Selcuks Rechtsanwältin Erna Hepp und die Wilhelmsburger Pastorin Friederike Raum-Blöcher, die die Kurdin betreute, hatten am Nachmittag telefonisch bei der Ausländerbehörde interveniert. Während Amtsleiter Ralph Bornhöft behauptete, die Abschiebung sei ausgesetzt, war bereits eine Amtsärztin im Auftrag seiner Behörde am Flughafen bei Selcuk. Deren Befund, so die Dolmetscherin: „Den Flug wird sie überleben.“
Erschüttert über die ärztliche Abschiebehilfe zeigte sich gestern Winfried Kahlke, Professor am UKE und Vorstandsmitglied der Hamburger Ärztekammer. Auf seinen Antrag hin hatte der Deutsche Ärztetag vorigen Freitag eine Erklärung verabschiedet, in der es heißt: „Abschiebehilfe durch Ärzte in Form von Flugbegleitung (...) sind mit den ethischen Grundsätzen nicht vereinbar.“
Wegen des Agierens der Ausländerbehörde stehen jetzt unter den rot-grünen Koalitionspartnern Gespräche an. Der SPD-Abgeordnete Rolf Polle räumte gestern ein, daß der „Geist des Koalitionsvertrages nicht gerade gefördert wird“. GAL-Fraktionschefin Möller erklärte, daß es mit dem Vertrag „unverträglich“ sei. Von einem Bruch der Koalition wollte sie indes nicht sprechen.
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