: Same procedure as every year? – Ach nö!
■ Im Frauenhaus wird „Wintersonnenwende“ statt Weihnachten gefeiert
Fest der Liebe, Fest der Hiebe: Das, was sich an Weihnachten in vielen Familien abspielt, endet nicht selten im Frauenhaus. Die sentimentalen Gefühle, der Traum vom heilen Familienglück, wird an solchen Feiertagen trotzdem wieder an die Oberfläche gespült. „Weihnachten im Frauenhaus ist immer ganz furchtbar“, weiß Frauenhaus-Mitarbeiterin Mirjana aus der leidvollen Erfahrung, ein deprimiertes Häuflein Frauen und Kinder an Heiligabend aufheitern zu müssen. Gerade angesichts dessen, was die Frauen hinter sich haben, „gibt es keinen Anlaß, Weihnachten traditionell zu feiern. Wir wollten deshalb die Frauen von diesem Datum ablenken.“
Doch das war nicht der einzige Grund, warum frau fest entschlossen ist, dieses Jahr nicht „same procedure as every year“ walten zu lassen. Sowohl im Team als auch bei den Bewohnerinnen ist rund die Hälfte gar nicht christlich. „Wir können uns doch nicht einfach nach der Mehrheit richten. Gerade wir müssen daran denken, daß auch andere Kulturen und Religionen bei uns leben“, so Frauenhaus-Mitarbeiterin Bahar. Kein anderes Fest, weder das moslemische Zuckerfest, noch das persische Neujahr, würde automatisch gefeiert. Die Initiative müsse schon von den Bewohnerinnen selbst kommen – gleiches Recht für alle. Und dann „kaufen wir eben auch einen Weihnachtsbaum“.
Noch im vorigen Jahr war das anders. „Da haben wir richtig schön deutsch gefeiert, weil die deutschen Frauen drauf standen.“ Doch inzwischen fragt sich nicht nur Bahar: „Die ausländischen Frauen mußten sich bisher immer anpassen. Wo wird denn diesen Frauen Raum gegeben?“ Die Idee, Sylvester als gemeinsames Fest mit Geschenken zu feiern, wie es zum Beispiel in vielen moslemischen Ländern üblich ist, war eigentlich nicht schlecht. Doch da hatte man die Rechnung ohne den Nachwuchs gemacht. „Die Kinder können nicht so lange auf die Geschenke warten“, wurde schnell klar.
Und doch, dachten sich die Frauenhaus-Mitarbeiterinnen, muß es möglich sein, ein eigenes Frauenfest neu zu erfinden und der weihnachtlich-christlichen Familientradition ein eigenes Ritual entgegenzusetzen. „The Invention of Tradition“ – das Schaffen neuer Traditionen ist ohnehin derzeit der Renner in den Kulturwissenschaften. Rituale fallen nicht vom Himmel; diese Erkenntnis ist eigentlich eine Banalität und doch eine kleine Revolution. Denn, wenn Tradition nicht statisch ist, wenn jede Generation Kultur neu erfindet, dann kann es auch nicht „das Authentische“ geben. Statt beim Wort Weihnachten abzuwinken, die Traditionen, die allen gehören, den Konservativen zu überlassen, kann mensch die Rituale selbst in die Hand nehmen.
Gesagt, getan: Im Frauenhaus wird dieses Jahr „ein Frauenfest mit matriarchalem Ursprung“ gefeiert, nämlich die „Wintersonnenwende“. Ab dem 21. Dezember werden die Tage wieder länger, rückt das Ende der winterlichen Dunkelheit ein Stück näher. Mit „vielen Kerzen, einem Lagerfeuer im Garten“, einem ausgiebigem Essen, Geschenken, Musik und Tanzen fand vorgestern die Premiere statt. „Ein kleines Ritual muß natürlich auch sein“, verrät Mirjana esoterische Ambitionen, von Tannenbaum und Weihnachtskrippe abzulenken.
Ganz unbelastet ist die „Wintersonnenwende“ allerdings nicht. Die Ursprünge liegen zwar im Nahen Osten. Doch auch die Nazis hatten ein Faible für dieses Fest. Da muß frau noch einiges tun und etliche matriarchalen Wurzeln ausgraben, um das Zelebrieren von Sonne und Licht für sich zu vereinnahmen. Silke Mertins
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