: Die ewigen Schuldbekenner
■ Mehr als 100.000 meist junge Menschen werden vom kommenden Mittwoch an den Evangelischen Kirchentag in Stuttgart besuchen. Die Veranstaltung steht unter dem Motto: „Ihr seid das Salz der Erde“. Erwartet wird ein Happening, das politisch nur schlichte Antworten auf komplexe Fragen zu geben weiß. Der Vorsatz lautet offiziell: „Wie werden wir am wenigsten schuldig?“ Man will sich also nicht die Hände schmutzig machen, schon gar nicht mit Realpolitik. Eine Kritik des deutschen Protesantismus von HerbertAmmon
Kirchentag als Zeitansage wird zur Besinnungsstation auf dem Weg ins nächste Jahrtausend“, erklärt in unnachahmlich protestantischem Tonfall die Kirchentagspräsidentin Barbara Rinke. „Es wird ein Kirchentag des Hinterfragens sicher geglaubter Positionen werden.“ Weiter heißt es in ihrem Geleitwort, daß angesichts des Kosovo-Krieges – mutmaßlich das medienwirksame Thema der protestantischen Heerschau – die „Diskussion in der Gesellschaft“ auf „eine Frage hinauszulaufen“ scheint: „Wie werden wir am wenigstens schuldig?“ Damit sind die Kirchentagsprotestanten wieder bei ihrem Lieblingsthema: der Schuld, genauer: der deutschen Schuld.
Beim Durchblättern des 576 Seiten starken Programms bestätigt sich unsere Skepsis: Obgleich es zuerst um die Zukunft des Glaubens gehen soll, sodann um die Zukunft des Menschen und erst danach um die Zukunft der Gesellschaft, geht es tatsächlich um wenig anderes als um die politischen Endlosthemen: Krieg und Frieden, Frauen und Ökologie, die Dritte Welt (“Zweidrittelwelt“), allgemein um „die verbesserliche Welt“. Dazu der hinlänglich bekannte Kirchentagsrummel mit Sakropop, Posaunenchören, Massenauftrieb im Stadion, „Rhythm, Dance & Ecstasy“, Meditation und politischen Pilgerpfaden (“Pilgerweg – Aufbruch in eine gerechtere Welt“ unter Anleitung der Theologin Dorothee Sölle). Das Sammelsurium hat eine pathetische Überschrift, entliehen der Bergpredigt: „Ihr seid das Salz der Erde“ (Math. 5, 14).
Der Satz geht indes weiter: „Wenn aber das Salz dumm wird, womit soll man salzen.“ Er wird womöglich deshalb nicht zitiert, weil er sonst die Beliebigkeit der Veranstaltung allzu deutlich werden lassen könnte. Denn worum sonst geht es bei diesem – wie bei den meisten anderen – Kirchentagen, als um die Attitüde permanenten protestantischen Bekennertums?
Genauer betrachtet, ist der Kirchentag das einzige gesellschaftliche Forum, in dem noch einfache Lösungen zu haben sind. Denn welche Wirtschaftsdoktrin ist wirklich die „richtige“, welche verdient als „christliche“ unseren Vorzug? Das neoliberale Konzept der Globalisierung verheißt den Armutszonen der Südhalbkugel eben jene Wachstumsraten, die anderswo mit einem „Marshallplan für die Dritte Welt“ oder globalen Umverteilungskonzepten angestrebt werden sollen. Verfolgen die auf Kirchentagen geschmähten Ökonomen der Weltbank und des IWF – dessen Präsident Michel Camdessus ein sozialistisches Parteibuch besitzt –, nicht ernsthaft das Ziel universeller Gerechtigkeit durch Starthilfen beim Take-off, wenngleich mit strengen Regeln beim Flug in den global angestrebten westlichen Wohlstandshimmel?
Wie steht es, von grünen Wahlkampfparolen abgesehen, mit dem Verhältnis von Ökonomie und Ökologie ? Wie gelangen die Virtuosen der Weltrettung kerosinfrei zu ihren Umwelt-, Frauen- und Friedensforen? Sollen wir aus ökologischer Rücksicht auf Obst aus Südafrika verzichten, oder müssen wir den Absatzmarkt für Produkte aus Bischof Desmond Tutus Regenbogengesellschaft als global verantwortliche Konsumenten befördern?
Mehr noch: Was sollen nationaldeutsche Schuldbekenntnisse im postnationalen Europa, was bedeutet das Insistieren auf „deutscher Schuld“ bei gleichzeitiger Abkehr vom Konzept der Nation? Was bedeutet die unbegrenzte Aufnahme von Armutsflüchtlingen für den Bestand der ausgezehrten Sozialsysteme? Wo liegen die Grenzen der Integrationskraft der demokratischen Nationalstaaten angesichts unverminderter Einwanderung? Wie steht es mit dem Eintreten für Menschenrechte, wenn damit auch das Recht auf kollektive, politisch-kulturelle Selbstbestimmung gemeint ist ? Wie hält es der christliche Pazifismus seit dem Golfkrieg 1991, erst recht seit den Balkankriegen, mit der Realität des Krieges?
Zusammengefaßt: Für keine der zum casus confessionis stilisierten Themen gibt es ethisch eindeutige, mit den Mitteln kritischer Vernunft begründbare „christliche“ Handlungsmaximen. In nahezu allen hochkomplexen Fragen der politischen Wirklichkeit kommt ein dezisionistisches Moment ins Spiel. Menschliches Handeln ist stets mit der Möglichkeit des Irrtums und Scheiterns behaftet. Dies – und nicht die Aufgeregtheiten „engagierten Christentums“ – ist der Ort christlicher Religion und Reflexion.
Der Grund, warum über so einfache wie schwierige Fragen menschlicher Existenz kaum irgendwo frei, vorbehaltlos, unverkrampft gesprochen wird, liegt offenkundig in der Kompromittierung jeglicher deutscher Kulturtradition durch den Nationalsozialismus. Die Wurzeln des Problems liegen jedoch tiefer.
Es geht um den wesentlich von deutscher Philosophie beförderten „Sündenfall“ des modernen Menschen aus seiner Bindung an den transzendenten Gott. Wurde in den Katastrophen unseres Jahrhunderts die Brüchigkeit der Moderne für alle Welt manifest, so laboriert der deutsche Protestantismus aufgrund seines seit der nationalsozialistischen Ära gebrochenen Verhältnisses zum Idealismus mehr als jede andere westliche Kulturtradition an den Konsequenzen dieser heillosen Erfahrung. Bereits vor der unerwarteten, gerade auch von westdeutschen Protestanten aus geschichtsideologischem Moralismus heraus vielfach abgelehnten Wiedervereinigung traten hinter dem in der alten Bundesrepublik vorherrschenden Linksliberalismus die Züge des säkularisierten Protestantismus hervor.
Wie ist diese widersprüchliche Kulturtradition – eine Mischung aus Schuldbewußtsein und gesinnungsethischem Eifer – zu definieren? Mit Begriffen wie „säkularisiertes Luthertum“, „unvollendete Aufklärung“ und „Weltfrömmigkeit“ hat der Philosoph Helmuth Plessner eine umfassende Deutung der durch die Reformation in Deutschland begründeten „unpolitischen“ politischen Kultur geliefert. In seinem 1935 im niederländischen Exil verfaßten Werk über „Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ erschien Plessner die im Protestantismus verwurzelte „Innerlichkeit“ noch als wertvolle, dem Nationalsozialismus wesensfremde Kulturtradition. Unter dem Eindruck der Vernichtungskräfte dieses Regimes revidierte Plessner sein Urteil und sah nunmehr in eben dieser Tradition der Innerlichkeit den verhängnisvollen „Sonderweg“. Nicht zufällig bezog sich Plessner jetzt auf Thomas Manns „Doktor Faustus“ und der darin enthaltenen Deutung der gefährlichen Ambivalenz des Phänomens protestantischer Weltfrömmigkeit.
Mit dieser Zuspitzung legte Plessner sein Werk 1959 unter dem Titel „Die verspätete Nation“ neuerlich vor. Plessner diagnostiziert im „säkularisierten Luthertum“ die unauflösliche Spannung „zwischen Rechtfertigungsverlangen und titanischem Weltvertrauen“, zwischen Rückzug aus der Welt und idealistischer Hinwendung zu dieser Welt. Hiermit erfaßt Plessner die psychologische Dramatik des von der Aufklärung destruierten lutherischen Rechtfertigungsgedanken: Die Aufklärung zerstört die Grundlage der in der Schrift (sola scriptura) begründeten Offenbarung. Wo kein transzendenter personaler Gott „allein durch die Gnade“ (sola gratia) den Sünder in seinem Glauben (sola fide) an den auferstandenen Christus (solo Christo) erlöst hat, sieht sich der Fromme ohne Hoffnung auf Erlösung auf sich selbst zurückgeworfen. Das Subjekt schwankt zwischen Leiden an der eigenen Unvollkommenheit und der aus evangelischer Berufung und Pflichtgefühl überkommenen Weltverantwortung.
In den Jahren nach 1945 erlebten die in der Evangelischen Kirche Deutschlands zusammengeschlossenen Kirchen eine aus Zerstörung, Not und Orientierungslosigkeit geborene Renaissance. Selbst das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ tat der Bindung der Protestanten an ihre Landeskirchen und dem nationalen Zusammenhalt der evangelischen Deutschen über die Zonengrenze hinweg zunächst keinen Abbruch. „Seid fröhlich in Hoffnung“ verkündeten als gesamtdeutsches Credo die glaubensgewissen Protestanten ein Jahr nach dem 17. Juni auf ihrem Kirchentag zu Leipzig 1954.
In den Fakultäten und auf den Kanzeln konkurrierten ohne erkennbare Schärfe unterschiedliche, an sich unvereinbare theologische Konzeptionen: Auf der politischen Linken folgte der zum Pazifismus konvertierte deutschnationale Martin Niemöller ausgeprägt konservativen theologischen Vorstellungen, während Karl Barth seine einflußreiche Dogmatik auf reflektierte Antithesen zu Aufklärung und liberaler Theologie gründete. Jahrzehntelang diente das Lehrgebäude Karl Barths, sein christlicher Sozialismus sowie die Schriften seiner linksprotestantischen Mitstreiter wie Helmut Gollwitzer zahlreichen evangelischen Theologen zur Orientierung.
Barths erneuerter Offenbarungsglauben vermittelte sowohl „progressiv-linken“ als auch politisch konservativen Vertretern der Amtskirche sowie dem gebildeten Kirchenvolk eine Basis akademisch respektabler Selbstbehauptung. Dagegen stieß das radikale Entmythologisierungsprogramm des Theologen Rudolf Bultmann selbst unter Fachtheologen auf wenig Gegenliebe: Bultmann destruiert die zentrale christliche Glaubensvorstellung von der Auferstehung Christi, er reduziert den historischen Jesus auf dessen Lehre und Verkündigung und findet in der Philosophie Martin Heideggers den Ansatz für christliche Glaubensexistenz – womit er die Verweltlichung der christlichen Botschaft forciert hat.
Zur jüngeren Entwicklung: Im Umfeld der Achtundsechziger-Bewegung, die aus den Evangelischen Studentengemeinden das Gros ihrer Anhänger rekrutierte, liefen unterschiedliche theologische Impulse zusammen. Alle bezogen sich auf das Erbe der Bekennenden Kirche. Psychologisch grundlegend für den Ausbruch der Revolte dürfte das Schuldmotiv angesichts der von Deutschen begangenen Verbrechen während der Nazi-Ära gewesen sein. Das Bekenntnis der Kollektivschuld enthielt unterschwellig Protest gegen den Verlust historischer Unschuld, im Protest gegen den Vietnam-Krieg flossen religiös-ethische Motive mit politisch-nationalen Emotionen zusammen. Über den SDS konnte sich im Milieu des akademischen Protestantismus leicht eine aktionistische Mentalität etablieren, die vom revolutionären Pathos der Befreiungstheologie beflügelt wurde.
Aus den nationalrevolutionären Gesängen des Theologen und späteren Kulturministers des sandinistischen Nicaragua, Ernesto Cardenál, bezogen aktivistische Gruppierungen wie „Christen für den Sozialismus“ seit Ende der sechziger Jahre ihre liturgische Inspiration. Die politische Theologie des revolutionären Sozialismus suchte das Heil nicht mehr im Subjekt der schuldbeladenen deutschen Nation, sondern in den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Nach dem Scheitern säkular-eschatologischer Hoffnungen, der Entzauberung der revolutionär-sozialistischen Experimente in Vietnam, China und Lateinamerika entdeckte der politische Protestantismus neue Exerzierfelder in der Umwelt- und Friedensbewegung.
Zur gleichen Zeit, als die sandinistischen Comandantes in Uniform dem Kirchentag die besondere Würze gaben, auf dem Höhepunkt des den Niedergang der Sowjetunion beschleunigenden Wettrüstens, verkündete der Weltkirchenrat 1983 die Trinität von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung als innerweltliches Credo. Dessen Nachhall in den Sätzen der Kirchentagspräsidentin Barbara Rinke klingt heute so: „Wir wollen es wagen, von einer Zukunft zu träumen, von der sich Christen entsprechend unserer Losung für ihren Glauben mehr Geschmack, für die Schöpfung mehr Bewahrung und für die Gesellschaft mehr Frieden erhoffen.“
Bleiben die theologischen Begründungen dieses Weltfriedensethos sowie dessen Realisierungschancen auch weithin unklar, so dient das Pathos des politischen Aktionismus der Erfüllung religiös-emotionaler Bedürfnisse. Welcher politisch Fromme unter den „Religionsvirtuosen“ erinnert sich freiwillig der Worte des Soziologen Max Webers über den leichtfertigen Umgang mit der absoluten Ethik des Evangeliums: „Mit der Bergpredigt ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen.“? Kurz: Kirchentagspilger mögen sich nur ungern mit den Dilemmata der Realpolitik befassen.
So steht im Zentrum des Gegenwartsprotestantismus wenig mehr als die rituelle Beschwörung deutscher Schuld, ununterscheidbar von den Dogmen der bundesrepublikanischen Zivilreligion. Reichen diese auf Dauer für humane, für christliche Existenz aus? Unschwer lassen sich hinter derartigen Begriffen die Symptome der eigentlichen religiösen Misere ausmachen: Spezifisch deutsche Schuldgefühle angesichts des Todes Gottes, Gesinnungsaktivismus angesichts umfassender Sinnlosigkeit.
Von außen gesehen fungiert die protestantische Ideologie als Pendant zum geistigen Leerlauf aus Hektik und Hedonismus der Mehrheitsgesellschaft. Was aber könnte Sinn und Ziel der Bibelarbeit der vielen politischen Prominenten (Wolfgang Schäuble, Renate Schmidt, Christa Nickels) auf dem Kirchentag sein? Vielleicht nur dies: eine Suche nach der Antwort auf die Frage „Jesu am Kreuz“: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Math. 27, 46)
Herbert Ammon, 55, Historiker, ist Dozent am Studienkolleg für ausländische Studierende der Freien Universität Berlin. Seine ausführliche Kritik zum Elend des deutschen Protestantismus erschien in der Zeitschrift Merkur (Nr. 599, Februar 1999)
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