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■  Dies ist die Geschichte einer albanischen Familie in einer kleinen Stadt im Kosovo. 26 Mitglieder zählte diese Familie. Jetzt leben noch drei von ihnen. Und es ist die Geschichte von Zoran Petkovic, dem freundlichen serbischen Busfahrer, der zum Massenmörder wurde.Der Mittag des 26. März in Suva Reka

Zoran Petkovic trat seine Flucht in größter Eile an. Auf dem Fußboden liegen noch alte Brötchen verstreut, der Käfig des Wellensittichs ist leer. Im Vorgarten, mitten zwischen den Rosenbüschen, blieb ein schwarzweißer Fußball zurück.

Eine Fotokopie eines Zeitungsartikels liegt auf dem senffarbenen Samtsofa, darin werden die Details des serbischen Abzugs aus dem Kosovo erläutert. Die Frist ist um Mitternacht abgelaufen. Aber so lange hat Zoran Petkovic gar nicht gewartet.

Er ist 42 Jahre alt, und in der Stadt Suva Reka kannten ihn viele. Schließlich traf man ihn oft vor dem Boss-Hotel, wo er saß und mit seinem Freund Misko Nisavic Bier trank. Zoran war Serbe, aber er war auch dann noch freundlich zu den Kosovo-Albanern, als die Beziehungen zwischen beiden Volksgruppen sich schon zum Schlechteren gewandt hatten.

Zorans Vater hatte einen florierenden Weinimport eröffnet, aber Zoran hielt es nicht lange in seinen Jobs aus. Schon als 17jähriger wurde er von der Schweppes-Abfüllerei entlassen – niemand hat herausbekommen, warum. Dann fand er Arbeit als Fahrer bei einem österreichischen Busunternehmen, später bei der Lasta-Omnibusgesellschaft in Belgrad, aber auch diese beiden Firmen entließen ihn nach kurzer Zeit.

Zweimal war er verheiratet, doch auch seine Ehen hielten nicht. Statt dessen zog er wieder bei seinen Eltern in deren geräumiges dreistöckiges Haus ein. Aber als sich auch seine dritte Frau von ihm scheiden ließ, warf ihn sein Vater hinaus.

Zoran besann sich eines Besseren, er gab die Busfahrerei auf und verdiente seinen Lebensunterhalt, indem er seine guten Verbindungen zu anderen Serben in Geld ummünzte. Korruption ist ein gutes Geschäft, und wenn jemand gefälschte Papiere für ein Auto brauchte, das er aus Deutschland mitgebracht hatte, oder eine Arbeitserlaubnis, dann war ihm Zoran behilflich.

Er verlangte ziemlich viel Geld für solche Dienste. Aber er hatte die richtigen Verbindungen, und gerade die Kosovo-Albaner bekamen immer mehr Schwierigkeiten mit den von Serben kontrollierten Behörden, wenn sie irgendwelche Papiere benötigten. Sie wußten, daß Zoran helfen könne.

Inzwischen gibt es für ihn nichts mehr zu tun in Suva Reka. Die Stadt ist ausgestorben, mitten auf der Straße verwest ein Schäferhund mit aufgeschlitztem Leib. Die Häuser der Albaner, die früher zu Zoran kamen, sind leer, rußgeschwärzt und verbrannt. Am Ende der Stadt, in der einmal 20.000 Menschen lebten, hinter den Heidekrautbüschen, sieht man Erdhügel – es sind die Gräber von Albanern, die in den vergangenen drei Monaten getötet worden sind.

Aber das ist nicht die ganze Geschichte, denn da gab es noch die in die Ferne davonrumpelnden Lastwagen, die mit frischem Blut verschmierten Türangeln und hinter den Erdhügeln einen Acker, der plötzlich zu einer frisch und verdächtig säuberlich planierten Müllgrube geworden ist.

In den Tagen bevor die Nato-Luftangriffe begannen, arbeitete Zoran gelegentlich doch wieder als Busfahrer, jeden Sonntagmorgen holte er vor dem Haus der Berishas den Bus ab, den er dann nach Prag steuerte.

Die Berishas waren eine der bekanntesten und wohlhabendsten albanischen Familien in Suva Reka. Zoran kannte sie aber nur flüchtig. Der Großvater war Direktor der Oberschule gewesen, bevor er sich zur Ruhe setzte. Er hatte vier Söhne, einer war Ökonom, ein anderer ein Ingenieur und der dritte ein Geschäftsmann geworden.

Bujar hieß der, er vermietete Geschäftsräume und Autos. Als die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einige ihrer Leute als Beobachter in Suva Reka stationieren wollte, bot er an, sie für weniger Geld unterzubringen als das Hotel Boss verlangte. Es gehörte einem von Zorans Freunden. Geschäft ist Geschäft, dachte Bujar Berisha, aber er übersah, daß er den Zorn gefährlicher Leute erregt hatte.

Die OSZE zog also vom Boss-Hotel um in das von Berisha angebotene Haus, und Zorans Freunde büßten eine gute Devisenquelle ein. Als die Nato immer lauter drohte, mit Luftangriffen die Serben zum Einlenken zu zwingen, wurden die drei OSZE-Mitarbeiter – einer war aus den USA und zwei aus Deutschland – dann plötzlich abgezogen.

Die Stimmung in Suva Reka schlug unvermittelt um: Serben aus der Stadt trugen plötzlich Uniform und wollten für ihre Heimat kämpfen. Auch Zoran, der Wochenendbusfahrer, der ansonsten zuviel Zeit hatte, wurde Soldat – ein Mann mit einer Mission und einer Kalaschnikow.

Dann fielen eines Nachts die ersten Bomben. Die Leute von der OSZE waren schon weit weg. „Ich wünschte, sie hätten uns mitgenommen. Ich verstehe nicht, warum sie uns nicht gewarnt haben. Sie gingen einfach und sagten, alles werde gut. Miloevic werde unterschreiben und sie würden zurückkommen“, sagte Vjollca Berisha. Das war am 22. März, zwei Tage bevor die Luftangriffe begannen.

Vjollca Berisha schluchzte gestern in ihrem Garten, in dem die Sonne schien. Von den 26 Mitgliedern ihrer Familie – 13 waren noch Kinder – haben nur drei überlebt: Vjollca, ihr zehnjähriger Sohn Gramos und ihre Schwester Shyreta.

Es war der Mittag des 26. März. „Bujar“, riefen die fünf maskierten Männer vor dem Haus. „Bujar, komm raus! Wo sind deine Amerikaner jetzt? Du willst Nato? Wir geben dir deine Nato!“

Bujar kam aus dem Haus und erblickte Zoran und seinen Freund Misko Nisavic, den Besitzer des Boss-Hotels. Die Berishas schauten von drinnen zu. Bujar grinste Zoran an, den Mann, der jeden Sonntag den Bus vor seinem Haus abholte. Zoran grinste zurück. Die Männer hoben ihre Kalaschnikows. Bujar hatte keine Zeit mehr, zurück ins Haus zu gehen.

Die Berishas wurden aufgeteilt. Zuerst wurden die Männer erschossen, dann Lily, die Ehefrau, die im siebten Monat schwanger war. Die anderen Frauen liefen schreiend mit ihren Babys auf dem Arm davon.

Sie liefen an den zerstörten Einkaufszentren vorbei, die von serbischen Paramilitärs in der Nacht der ersten Bombenangriffe geplündert worden waren. Vorbei an Benis Reisebüro, wo ein verwaistes Philosophiebuch auf dem Schaltertisch lag, das der Angestellte während der Dienstzeit heimlich gelesen hatte. Vorbei auch am Restaurant „Drina“, in dem die Tische noch fürs Frühstück gedeckt waren – hinein in ein Café. Niemand weiß, warum sie alle hierher rannten, um sich zu verstecken.

Jetzt, fast drei Monate später, ist hier alles voller Blut. Blut auf den falschen dorischen Säulen, Blut auf den Heizkörpern, Blutspuren von jemand, der sich hinter der Espresso-Maschine versteckt hatte. Die lila Tischdecken liegen über den ganzen Boden verstreut.

Auf der Theke stehen Brotkörbe, die für ein Mittagessen vorbereitet wurden, das es nie gegeben hat, im Gefrierschrank liegen ein Dutzend monatealte tiefgekühlte Eier und eine Palette mit Joghurt aus Belgrad.

Draußen auf dem Bürgersteig liegen 72 leere Kalaschnikow-Magazine. „Es ist schrecklich, Kinder zu sehen. Du kannst es dir nicht vorstellen, wie es klingt, die Schreie eines Kindes, das stirbt“, sagt Vjollca. „Sie haben auf uns durch die geschlossene Tür geschossen. Sie waren zu zweit.

Ich sah einen kleinen Jungen ohne Kopf, überall war Blut, die kleinen Babys waren tot. Der dreijährige Ismet schrie „Mama, ich will Wasser!“ und dann haben sie ihm ins Gesicht geschossen. Das kleine Baby Eron war zehn Monate alt. Er schrie. Da haben sie auch ihn erschossen.

Ich sah meine Tochter. Wir sahen uns an über die Körper hinweg und sie bewegte die Lippen, als wolle sie mir etwas sagen. Ich hielt meinen Sohn in den Armen und ich sah meine Schwester, die ihr Baby im Arm hielt. Das Baby war tot. Aber sie hielt es weiter fest.“ Es ist still in dem sonnigen Garten. Verwandte hören Vjollca zu. Sie hatte sich wie ein verwundetes Tier in den Bergen versteckt. Jetzt erzählt sie zum ersten Mal, was in dem Café passiert ist. Sie wirkt sehr beherrscht, bis sie nach Namen und Alter der Kinder gefragt wird.

Sie hatte drei Kinder: Zwei Töchter, Daphina und Drilon und einen Sohn, Gramos. Jetzt hat sie nur noch einen Sohn. Ihre Schwester Shyreta hatte vier Kinder: Majonida, 16, Erorinda, 14, Altin, 10 und Radion, 2. Sie sind alle tot.

Majonida hatte ihre Mutter gefragt: „Mama, was machen wir denn jetzt?“ „Mach dir keine Sorgen. Wir werden überleben“, sagte Shyreta und dann warfen sie eine Handgranate hinein, direkt auf Majonida.

„Ich sah Altin, wie er quer durch den Raum auf seine Mutter blickte, er machte ein Geräusch, das ungefähr so klang wie ,uuuf‘, und starb“, sagt Vjollca.

Als die Männer zurückkehrten, vergrub Vjollca ihr Gesicht zwischen den Körpern ringsumher. Nur Shyreta blickte kurz auf. „Shyreta erzählte mir, daß der Mann, der die Kalaschnikow hob, um sie alle zu erschießen, Zoran Petkovic war.“

Sie überlebte, indem sie sich tot stellte, als die Körper ihrer Kinder und anderen Familienmitglieder auf die Pritsche eines Lastwagens geworfen wurden. „Sie zogen mich an einem Bein aus dem Café und warfen mich auf den Laster neben meine tote Mutter.

Mein Sohn lag über mir. Ich hörte die Stimme eines Kindes, das nach Hilfe rief, tief unten zwischen den Leichen unter mir, aber ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte gar nichts sehen. Ich war begraben unter einem Berg von Körpern. Ich hörte nur, wie sie den Truck außen von Blut säuberten.

Eine Menge serbischer Zivilisten hatten sich vor dem Laster versammelt. Ich blickte kurz auf und sah die tote Flore, die wunderschön aussah. Dann fuhren sie los. Sie fuhren sehr, sehr schnell.

„Shyreta sprach und sie sagte: ,Lebst du noch? Wir müssen springen.‘ Ich sah, daß Shyreta noch immer ihr Baby im Arm hielt. Es war tot, aber sie konnte es nicht loslassen. Shyreta sagte: ,Ich werde springen. Und wenn ich sterbe, ist das in Ordnung, denn ich bin ohnehin eine tote Frau.‘ Dann legte sie ihr Baby ab und sprang. Ich sagte zu meinem Jungen: ,Wir müssen springen‘, und er sagte: ,Bitte nicht, Mama, ich habe Angst‘ “.

Sie sprangen, und die Frau, die mehrere Schußwunden hatte, sagte, daß sie irgendwie die Kraft zum Laufen fand zusammen mit ihrem einzigen überlebenden Sohn.

Sie war bei keinem Arzt seit März, die Kugeln sind noch alle in ihrem Körper, aber sie hat Angst, das Haus zu verlassen, das ihr eine serbische Familie als Versteck angeboten hat.

Sie ist immer noch im Kosovo und vor drei Tagen traf sie wieder mit ihrer Familie zusammen, als die deutschen Truppen im Südkosovo einmarschierten.

Shyreta floh nach Albanien – eine Frau, die ihren Mann und alle Kinder verloren hat. Fünf Wochen lang hat sie versucht, mit einem Konvoi die Grenze zu überqueren. Einem Freund hat sie gesagt: „Ich bin innerlich gestorben. Ich bleibe nur deshalb am Leben, um Zeugnis abzulegen über das, was passiert ist.“

Sie wurde zunächst in die Schweiz gebracht, dann nach Italien unter dem Schutz des Haager Kriegsverbrecher-Tribunals und lebt jetzt an einem geheimen Ort.

Als wir gestern in der Schweiz mit Besha Berisha, einem Bruder Shyretas sprachen, sagte er, ihre letzten Worte zu ihm seien gewesen: „Auch wenn ich sterbe: Bitte findet Zoran Petkovic, denn er ist für alles verantwortlich. Er war es, dem wir dieses Geschenk verdanken.“

In Suva Reka sagen sie, daß Zoran nach Belgrad geflohen ist. Vielleicht wird man ihn eines Tages finden, als Busfahrer in dem Land, das einem ziellos Dahintreibenden für einige Zeit die Möglichkeit gab, seinem schäbigen Leben eine Mission zu geben.

Mit freundlicher Genehmigung des „Guardian“

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