: Der wilde Osten
Ein weiteres Schicksalsjahr für die deutsche Küche war 1989. Mit der Epochenwende und dem Fall der Mauer mußten sich die Deutschen hüben und drüben neu ertragen, mitsamt ihren Tischgewohnheiten.
Sättigungsbeilage, Soljanka und Broiler, aber auch das „Schnitzel mit Zigeunermasse“ waren den transitreisenden Wessis bereits bekannt. Doch die Deutsche Kulinarische Republik hatte mehr zu bieten. Gelernte Ostdeutsche schwärmen noch immer von sozialistischen Salmiakpastillen, Bambina-Vollmilchschokolade und Knusperflokken von „Zetti“.
Bis heute fährt die Republik auch kulinarisch zweispurig. Der Osten hat seine alten Produkte wiederentdeckt, lieblicher Rotkäppchensekt ist zum Identitäts- und PDS-Parteitagstrunk geworden, während der aufgeklärte Wessi politisch korrekt „trocken“ trinkt. Immerhin: Zwei ostdeutsche Winzer aus Sachsen und Saale-Unstrut, Klaus Zimmerling (Dresden) und Udo Lützkendorf (Freiburg), haben es mit ihren wunderbaren Weinen auch im Westen zu Ansehen gebracht.
Mit der Alternativbewegung füllten uns Müsli und Rohkost den Teller. Unter der Rubrik „Alltagsökologie“ trimmte die taz ihre Leser zur korrekten Abfütterung: Das Essen sollte zu dreißig Prozent aus Rohkost bestehen. Fleisch bitte nur im Notfall. Der morgendliche Frischkornbrei – Getreide mit der hauseigenen Mühle vermahlen und mit Wasser über Nacht angesetzt, anschließend mit Obst und schwefelfreien Rosinen und Biohonig gemixt – wurde zum Starter für den ökologisch ambitionierten Tag. Heute sieht man die Dinge gelassener, die Rohkostanteile sind geschrumpft, das Schnitzel ist wieder satisfaktionsfähig.
„Chemie in Lebensmitteln“ hieß das große Erfolgsbuch der Kölner Katalysegruppe. Und die Deutschen gingen auf Schadstoffpirsch. Bürgerinitiativen und Ökologiebewegung entdeckten ein weiteres großes Thema: die Vergiftung der Nahrung. Kadmium im Salat, Blei im Kochwasser, Pestizide und Düngerexzesse überall. Dazu Dioxin in der Muttermilch, Cäsium in der Rotkappe. Die Skandale waren groß. Ebenso die Erfolge: Neue Umweltgesetze machten den Giftspritzern Dampf. Die Flüsse wurden sauberer, der Lachs kehrte in den Rhein zurück. Und die Biobauern gewannen an Terrain. Eine Gesellschaft begann umzudenken, die Ökologie machte Karriere bis in die Machteliten hinein. Heute ist die Biokartoffel so selbstverständlich wie Bettenlüften und Zähneputzen. Nur: Andere Länder haben inzwischen die Führungsrolle übernommen. Deutschland ist bei zwei Prozent ökologisch kontrollierter Agroproduktion stehengeblieben. Und die Barbarei der Massentierhaltung in Käfigen und Dunkelhaft ist ungebrochen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen