: Die Dämonen sind gebannt
Gelassen gehen alte Tennishelden wie Agassi und Becker, Graf und Novotna Wimbledon an. Auch Erstrundensieger Sampras muß nichts mehr beweisen ■ Aus Wimbledon Matti Lieske
Ein Hauch von Zen liegt über der Anlage von Wimbledon. Eine Aura von Gelassenheit und Gleichmut, die vor allem einige der altgedienteren Protagonisten erfaßt hat. Pete Sampras zum Beispiel, der hier in den letzten sieben Jahren fünfmal gewann und gestern nachmittag auch sein Auftaktmatch auf dem Center Court souverän 6:3, 6:4, 6:4 gegen Scott Draper. Aber er hat schon erkennen lassen, daß er über ein frühes Ausscheiden nicht sonderlich geschockt wäre. „Ich habe nichts mehr zu beweisen“, sagt der 27jährige Weltranglistenerste und ähnelt gar nicht mehr jenem getriebenen Tennismaniac vom letzten November.
Damals hatte er sich in den Kopf gesetzt, daß es die größte aller Errungenschaften wäre, wenn er als erster Spieler aller Zeiten sechsmal hintereinander das Jahr als Nummer eins beschließen würde. Dafür spielte er wie ein Besessener, ließ darüber sogar seine Liaison mit der Schauspielerin Kimberley Williams in die Brüche gehen und erreichte sein Ziel schließlich denkbar unspektakulär bei der ATP-WM in Hannover. Während er mit einem Teller Spaghetti in seinem Hotelzimmer vor dem Fernseher saß, erfuhr er, daß der verbliebene Konkurrent Marcelo Rios das Turnier wegen Verletzung aufgegeben hatte.
Seither ist Sampras verwandelt. Fast vier Monate machte er Pause und gewann erst vor einer Woche im Queen's Club wieder ein Turnier. Natürlich wäre es hübsch, sagt er, durch seinen sechsten Sieg auf der ehrwürdigen Anlage des All England Lawn Tennis Club zum unangefochtenen König von Wimbledon zu werden. Doch wenn nicht – pah! „Ich habe eine Menge große Titel gewonnen und war sehr lange die Nummer eins“, spricht er und klingt wie eine geistige Kopie von Boris Becker.
Sampras ist jedoch längst nicht der einzige, der seine Dämonen gebannt hat und dieses Wimbledonturnier äußerst entspannt angeht. Da wäre zunächst einmal Becker selbst, der sein letztes Heimspiel im Londoner Südwesten zwar nicht gerade schon heute als Erstrunden- oder – noch schlimmer – Zweitrundenverlierer beenden will, aber doch hauptsächlich da ist, um zum letztenmal auf dem Center Court die Huldigungen seines erdbeerseligen Lieblingspublikums entgegenzunehmen.
Oder Steffi Graf, die ihre freche Nachfolgerin aus der Schweiz aus Versehen schon vor drei Wochen bei den French Open in die Schranken gewiesen hat. Mit nunmehr 30 Jahren kann sie sich voll und ganz darauf konzentrieren, die Grande Dame des Welttennis zu geben, ein bißchen mit John McEnroe herumzudoppeln und vielleicht ganz nebenher der hochnäsigen Hingis doch noch eine weitere Nase zu drehen.
Nicht viel anders geht es Jana Novotna (30), die indes weniger die große Dame zu spielen sucht als vielmehr „die Dorothy Parker der WTA-Tour“, wie der Daily Telegraph süffisant bemerkt. Seit sie von Martina Hingis als Doppelpartnerin entlassen wurde, weil sie „zu alt und zu langsam“ sei, spart die scharfzüngige Tschechin nicht mit bissigen Bemerkungen über die nächste Generation, was ihren Freundinnenkreis im Tenniszirkus rapide schmelzen läßt.
Novotna versuche sich als Schneewittchen der Szene zu gerieren, spottete eine Kollegin, dabei ähnele sie eher den Zwergen: griesgrämig, plump und allzeit brummbärig. Ihr großes Trauma hat aber auch Jana Novotna überwunden. Mit dem Sieg im letzten Jahr widerlegte sie all jene, die behauptet hatten, sie sei zu nervenschwach, ein großes Match zu gewinnen. „Meine Karriere ist komplett“, freut sie sich, wird aber nichtsdestotrotz alles tun, die Jugendbanden auf der anderen Netzseite nicht nur mit sarkastischen Bemerkungen zu quälen.
Und dann ist da natürlich noch Andre Agassi, dessen Tennis die Scheidung von Brooke Shields offenbar glänzend bekommen ist. Mit seinem Sieg bei den French Open hat er sich in die illustre Gilde jener wenigen Tenniscracks begeben, die alle vier Grand-Slam-Turniere gewinnen konnten. Fred Perry, Don Budge, Rod Laver, Roy Emerson, Andre Agassi – das kann sich hören lassen. Ein weiterer Spieler, der nichts mehr beweisen muß, und um so gefährlicher ist für jene, die eine ganze Menge zu beweisen haben: Mark Philippoussis, der Australier, der gestern Xavier Malisse 6:7 (4:7), 6:4, 6:3, 6:4 schlug, Tim Henman, der Britplopper, dem ganz England im Nacken sitzt, Venus Williams, die atemlos den eigenen Vorschußlorbeeren hinterherhetzt, und vor allem Martina Hingis, deren minimalistische Reue über ihre mißlungene McEnroe-Parodie bei den French Open schon eine kleine Haßkampagne der britischen Presse gegen die „Swiss Miss“ bewirkt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen