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Den Kopf hängenlassen

Nur wer ein Auto hat oder zu Fuß zu geht, kann dem Dreck und Elend der Flüchtlingslager entkommen. Um in den Westen ausgeflogen zu werden, behaupten die Vertriebenen, müsse man nicht krank sein, sondern sehr viel Geld haben  ■ Aus Cegrane Barbara Oertel

Nein, nein“, grummelt der makedonische Polizeibeamte und hebt abwehrend die Arme. „Einlaß nur mit einem offiziellen Schreiben.“ Nach einem klärenden Anruf winkt er schließlich durch. Rund 40.000 vertriebene Kosovaren harren hier in dem grenznahen Flüchtlingslager Cegrane auch noch zwei Wochen nach Ende der Nato-Angrife auf Jugoslawien in Wartestellung aus.

Wenigstens das Wetter hat an diesem Tag mit den Flüchtlingen Erbarmen. Anders als sonst verwandelt heute nicht brütende Hitze die Zeltstadt in einen überdimensionalen Grill. Dafür hat der Regen vom Vortag den Boden aus Geröll und Kies völlig durchgeweicht. Über die Frage, ob dieses Lager winterfest zu machen ist, möchte man nicht nachdenken.

Kurz hinter dem Eingang hat ein Kiosk mit Eis, Früchten und Gebäck in einer Holzbaracke Quartier bezogen. Doch es sindnicht Nächstenliebe oder Solidarität mit den geschundenen Landsleuten, die die Betreiber, Albaner aus dem Ort, hierhergetrieben hat. 10 Denar (30 Pfennig) kostet eine Kugel der kühlenden Versuchung – viel Geld für Flüchtlingskinder.

Ein Mann in T-Shirt, Shorts und Badelatschen tritt aus der improvisierten Eisdiele. „Ich arbeite seit acht Jahren in Kaiserslautern und helfe jetzt hier meinen Angehörigen. Soll ich für Sie übersetzen?“ Die Frage klingt, als habe der Mann seine Dienste bereits des öfteren angeboten. Das Erscheinen des Wahl-Kaiserslauterers, der ständig die Worte „Gazetare, Gazetare“ (Zeitung, Zeitung“) ruft, ist gleichsam das Signal zur Belagerung. Im Nu haben sich vierzig bis fünfzig Menschen versammelt.

„Die Zustände hier sind katastrophal“, sagt ein Mann, der sich als Ivrahim Avdiu vorstellt und bis zu seiner Flucht aus Pritina als Lehrer in der Hauptstadt des Kosovo gearbeitet hat. Er trägt ein Hemd, das jetzt nur noch vom Dreck zusammengehalten wird. „Viele hier haben seit über einem Monat nicht mehr geduscht oder sich richtig waschen können.“ Tiefes Einatmen durch die Nase erübrigt weitere Nachfragen. „Und erst mal die Toiletten. Sehen Sie sich die lieber nicht an“, fügt Ivrahim Avdiu hinzu und zeigt auf vier Verschläge aus Aluminium, die zwischen den Zelten aufgestellt sind. Gerade verschwindet ein Mann hinter einer der Trennwände. Die Hosenbeine sind bis zum Knie hochgekrempelt.

Diese Lebensbedingungen, wenige bis gar keine Nachrichten aus den Heimatorten und Unklarheit über das Schicksal ihrer Angehörigen haben den Vertriebenen zugesetzt. In der vergangenen Woche demonstrierten Flüchtlinge im Lager gegen die wochenlange Kaltverpflegung.

„Auch wenn sie nicht wissen, ob ihre Häuser noch existieren, wollen die meisten hier so schnell wie möglich wieder in das Kosovo“, mischt sich der Übersetzer ein und erntet nach geleisteter Simultanübersetzung bei den meisten der Umstehenden zustimmendes Kopfnicken.

Doch so einfach ist die Rückkehr nicht. „Wir wollen zurück, aber wir können nicht“, sagt ein alter Mann, der sich zur Mitte des Kreises vorgearbeitet hat. Er steckt in einem abgetragenen Anzug und entblößt beim Sprechen eine Zahnlücke. Das stoppelige Kinn zittert vor Erregung. „Wir sind eine zehnköpfige Familie. Für eine Fahrt in das Kosovo verlangen die Taxifahrer 200 Mark pro Kopf. Wir haben aber kein Geld. In Albanien gibt es Busse, die die Flüchtlinge zurückbringen.“

Solche Transporthilfen plant jetzt auch das Innenministerium der makedonischen Regierung in Zusammenarbeit mit dem UNHCR. Ab Mitte der Woche sollen Busse zur Verfügung gestellt werden. Doch schon jetzt verlassen täglich mehrere hundert Flüchtlinge das Lager in Cegrane. Am vergangenen Freitag waren es allein 5.420 Vertriebene, die auf eigene Faust aufbrachen.

„Mit das größte Problem sind die vielen Kranken, die hier nicht richtig behandelt werden“, setzt der Lehrer Ivrahim Avdiu wieder an. Den lebenden Beweis liefert ein junger Mann. „Hier, mein Bruder. Der hatte in Pritina eine Kopfoperation, einen Abszeß.“ Er nimmt seinem Bruder die Baseballmütze ab. Darunter kommt eine eigroße Beule zum Vorschein, die seitlich aus dem Kopf wächst. „Er ist halbblind. Und hat bei dieser Hitze starke Kopfschmerzen. Niemand kümmert sich um ihn.“

Eine Frau zerrt ihren kleinen Sohn hinter sich her. Ängstlich klammert er sich an ihr Bein. „Zweimal wurde er von einer giftigen Schlange gebissen und war drei Tage bewußtlos.“ Sie schiebt das Unterhemd des Jungen hoch und zeigt auf einen feuerroten Fleck auf der kleinen Brust. „Ein Arzt hat unterschrieben, daß er behandelt wurde, aber das stimmt nicht“, schimpft sie und hält einen Zettel hoch.

„Das ist hier oft so“, erklärt der Übersetzer. „Den Kranken wird bescheinigt, daß sie behandelt wurden, aber in Wahrheit ist nichts passiert. Wer glaubt, daß ich hier die Wahrheit sage, soll die Hand heben“, sagt er und blickt in die Runde. Dutzende von Armen rekken sich sofort in die Höhe.

Das medizinische Demonstrationsprogramm ist noch nicht zu Ende. „Ich bringe Sie jetzt zu einer schwerkranken Frau“, sagt der Übersetzer und bahnt sich den Weg durch die Zeltreihen. Sowenig wie die Unterkünfte Schutz gegen die Sonne bieten, halten sie dem Regen stand. Überall vor den Zelten türmen sich kleine Berge von feuchten, verdreckten Matratzen.

Auf kleinen Öfen dampfen Kochtöpfe. Frauen knien neben Plastikwannen und versuchen, in einer bräunlichen Brühe Hosen, Hemden und Unterwäsche zu waschen. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen baumeln an Leinen zwischen den Zelten und wären eine echte Herausforderung für jedes Waschpulver.

Eine alte Frau steckt den Kopf aus dem Zelt. „Kommen Sie“, sagt sie. Den Boden im Inneren bedeckt eine feuchte Plastikplane. Es riecht nach Schweiß. Auf den Matratzen kauern fünf Kinder. In der hinteren Ecke liegt eine junge Frau. „Vor fünf Jahren wurde sie in Pritina operiert. Man hat ihr drei Rippen entfernt. Seitdem war sie dort fast die ganze Zeit im Krankenhaus. Alle zwei Tage kommt ein Arzt, um die Wunde zu säubern“, sagt der Übersetzer und fordert die Frau auf, ihre Wunde zu zeigen.

Sie schiebt mit schmerzverzerrtem Gesicht ihr T-Shirt hoch und lockert an einer Seite den Verband. Ein vereitertes Loch in der linken Seite wird sichtbar. „Sie müßte dringend ins westliche Ausland gebracht werden“, sagt er, „aber es gehen andere, gesunde Flüchtlinge.“ Vor dem Zelt fügt er hinzu: „Die Leute bezahlen zwischen 2.500 und 3.500 Mark für einen Flug nach Deutschland oder Norwegen.“ An wen? „Da fragen Sie besser andere.“

Ein Vertreter der Deutschen Botschaft ist bestens im Bilde. „Klar wird gezahlt, das wissen wir“, sagt er in einem Ton, als sei das nichts Besonderes. Die Vorwürfe würden geprüft. Das bestätigt auch ein Vertreter des UNHCR. Es sei eine Kommission aus fünf Personen gebildet worden, um der Sache auf den Grund zu gehen. Doch die Gespräche mit den Flüchtlingen hätten bisher ergeben: Alles nur Gerüchte.

Während im Lager manche noch auf eine Ausreisechance in den Westen hoffen, rollt von Blace aus die breite Masse in einer kilometerlangen Blechkarawane auf den Grenzübergang zum Kosovo zu. Aus den Kofferräumen der vollgestopften Autos, die sich im Schrittempo vorwärtsbewegen, quellen Taschen, Pappkartons und Wasserflaschen. Ein Mann hat die Tür seines Autos weit geöffnet und trommelt ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad. „Ich habe eine Familie mit zehn Personen aus dem Kosovo bei mir zu Hause aufgenommen. Jetzt fahre ich mit dem Mann zurück, um im Dorf nachzusehen, ob das Haus noch steht“, sagt er.

Ein Stück weiter vorn versucht eine Frau in einem Auto ihr Kind zu beruhigen. Nachrichten aus ihrem Heimatdorf hat sie keine, trotzdem will die Familie zurück. „Jetzt, wo die Nato da ist, ist doch alles sicher“, sagt sie.

Ein ägyptisches Kamerateam hat am Straßenrand ein Mädchen mit seinen Eltern ausgemacht. Die Kleine lächelt und beobachtet neugierig das Geschehen. Klappe, die erste, und wie auf Knopfdruck fließen bei dem Kind die ersten Tränen. Nach wenigen Minuten ist die Geschichte im Kasten.

In der Autoschlange geht inzwischen gar nichts mehr. Ganz Schlaue, die auf den Gegenfahrbahn versuchen, die Wartezeit abzukürzen, werden von entgegenkommenden Militärkonvois erbarmungslos wieder in die Schlange gedrängt oder dazu gezwungen, den Rückwärtsgang einzulegen. Getreu dem Motto „Stop and go“ ziehen viele lieber gleich die zweite Variante vor und gehen zu Fuß.

Auch zwei Männer haben auf die traditionelle Fortbewegungsmethode zurückgegriffen. Nasser, wie sich der eine vorstellt, hat bis vor drei Monaten in der Schweiz gearbeitet und geht heute nach langen Jahren wieder in das Kosovo. Sein Schwager, der während des gesamten Krieges seine Heimatstadt Gilat nicht verlassen hat, hat ihn in Blace abgeholt.

„Vielleicht kann ich den deutschen Truppen in ihrem Sektor helfen“, sagt er. In Gilat seien nur wenige Opfer zu beklagen, habe sein Schwager erzählt. Der fügt hinzu: „Bei uns sind die meisten serbischen Bewohner geblieben. Wir haben immer normal zusammengelebt und werden auch weiter gute Nachbarn sein.“

Direkt am Übergang versuchen entnervte makedonische Posten, den Überblick zu behalten. „Stellen Sie sich in einer Reihe auf“, brüllt einer die Wartenden an. Die nehmen brav Aufstellung. Vielleicht werden viele von ihnen morgen oder übermorgen wieder hier stehen. Diesmal auf der anderen Seite.

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