: Die Entdeckung der Langsamkeit
Berliner Straßenbahnen verbringen ein Fünftel der Fahrzeit vor roten Ampeln. Fehlende Vorrangschaltungen an Kreuzungen machen das starke Stück Nahverkehr unattraktiv. Verkehrsexperten entwickeln Konzepte einer Tram für ganz Berlin ■ Von Volker Wartmann
Wer auf zügige Nahverkehrsmittel angewiesen ist, ist mit der Berliner Tram nicht gut bedient. „Die Straßenbahn in Berlin zählt zu den langsamsten in ganz Deutschland“, sagt Stefan Kothe, Pressesprecher des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), Landesverband Berlin. „Die Fahrzeiten auf einigen Linien sind heute wegen des Baus zusätzlicher Ampeln sogar länger als vor zehn Jahren zu DDR-Zeiten.“ Die hauptstädtischen Trams sind mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von nur etwa 17 Kilometern pro Stunde unterwegs. In Köln, Schwerin oder Stuttgart liegt die Reisegeschwindigkeit der Straßenbahnen zwischen 22 und 24 Stundenkilometern.
„Die hiesigen Straßenbahnen stehen durchschnittlich rund ein Fünftel ihrer Reisezeit vor roten Ampeln, um auf grünes Licht zu warten und den Autos den Vorrang zu lassen“, sagt Kothe. „Das ist mehr Zeit, als sie an den Haltestellen verbringen.“ In anderen deutschen Städten stünden die Straßenbahnen nur zwischen ein und drei Prozent ihrer Reisezeit an roten Ampeln, weil sie an Kreuzungen durch eine Ampelvorrangschaltung Vorfahrt vor dem Autoverkehr hätten, so Kothe. Vor den knapp 200 Ampeln, die das rund 180 Kilometer lange Berliner Streckennetz säumen, ist die Situation umgekehrt. Hier wird in der Regel dem Autoverkehr Vorrang gewährt. So kann es schon mal vorkommen, daß man für die zweieinhalb Kilometer lange Strecke zwischen dem S-Bahnhof Greifswalder Straße und der Buschallee in Weißensee mit der Straßenbahn eine Viertelstunde unterwegs ist. „Durch eine Ampelvorrangschaltung für Straßenbahnen würde sich hinsichtlich der Dauer der Rotphasen für den Autoverkehr nicht viel ändern. Er hätte dann nur keine grüne Welle mehr garantiert“, sagt der Verkehrsexperte. Eher wären die Standzeiten für den Autoverkehr geringer als heutzutage, weil bei der starren Ampelschaltung zur Zeit die Autos auch dann warten müßten, wenn gar keine Straßenbahn komme, so Kothe.
Das Berliner Straßenbahnnetz ist in den letzten zehn Jahren nur unwesentlich ausgebaut worden. Der Verlauf der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und Westberlin ist mit Hilfe der Tram leicht rekonstruierbar. Deren Wendestellen markieren, bis auf eine Ausnahme im Wedding, die Orte der Teilung in der Stadt. 1953 hatte es im Westteil der Stadt noch knapp 300 Kilometer Straßenbahnstrecke gegeben. Danach war das Netz Stück für Stück zugunsten des Autoverkehrs gekappt worden, bis 1967 nichts mehr davon übrig war.
„Angesichts der knappen Haushaltsmittel ist der Ausbau der Straßenbahn wesentlich sinnvoller als der Bau weiterer U-Bahnen“, sagt Arne Koerdt, Sprecher des Berliner Arbeitskreises Verkehr beim Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Insbesondere der Bau der U-Bahnlinie 5 vom Alexanderplatz zum Lehrter Bahnhof sei eine unangemessene Geldverschwendung, so Koerdt. 1,3 Milliarden Mark seien dafür vorgesehen. Die U-Bahn verlaufe parallel zur bereits bestehenden S-Bahn, so daß diese Linie eigentlich überflüssig sei. „Wegen dieses Prestigeprojektes ist für den Ausbau anderer öffentliche Verkehrsmittel kaum Geld übrig“, sagt Koerdt. „Im Vergleich zur U-Bahn sind die Investitionskosten für den Bau von Straßenbahnstrecken fünf- bis zehnmal geringer, und die Betriebskosten liegen nur etwa halb so hoch.“
In einem Studienprojekt der Technischen Universität haben Tilo Schütz und Holger Orb in einer mehrjährigen Projektarbeit eine „konkrete Vision für ein integriertes Nahverkehrsnetz“ erarbeitet. In ihrem Konzept „Straßenbahn für ganz Berlin“ schlagen sie einen schrittweisen Netzausbau vor. Die Realisierungsstufen umfassen jeweils ein Investitionsvolumen von 200 Millionen Mark pro Jahr. Mit diesem Geld könnte das Netz innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren um etwa 50 Kilometer ausgebaut werden, so Orb. Langfristig ist in dem Konzept ein Gesamtnetz mit 60 Straßenbahnlinien vorgesehen. Schütz und Orb zeigen detailliert auf, wie perspektivisch 64 Buslinien ersetzt und 32 Straßenbahnlinien neu eingerichtet werden könnten. „Mittlere Entfernungen werden von Bussen und U-Bahnen nur unzureichend bedient“, sagt Orb. Dabei liege der Großteil der alltäglichen Wege im Bereich von zwei bis sechs Kilometern. „Im Grunde ist die Straßenbahn in einem vernünftigen und umweltfreundlichen öffentlichen Verkehrsangebot ein unverzichtbarer Bestandteil, da sie die Stadt gleichmäßig erschließt und zugleich attraktive Direktverbindungen herstellt“, sagt Orb. „Mit dem Auf- und Ausbau von Straßenbahnnetzen können Fahrgäste in hoher Zahl gewonnen werden. Das beweisen Erfahrungen aus anderen Städten.“ Ab einem Fahrgastaufkommen von 5.000 Personen pro Tag und Richtung rechne sich der Bau einer Straßenbahn, so Orb. Diese Zahl werde in Berlin auf vielen Buslinien deutlich überschritten.
Am 8. Juli werden Schütz und Orb ihr Projekt „Straßenbahnen für ganz Berlin“ um 19 Uhr in der Geschäftsstelle des VCD in der Yorckstraße 48 in 10965 Berlin-Kreuzberg ausführlich vorstellen.
Weitere Infos: VCD, Tel.: 4 46 36 64, Öffnungszeiten der Geschäftsstelle: Montag und Freitag zwischen 11 und 14 Uhr, Dienstag und Donnerstag zwischen 15 und 18 Uhr.
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