: Bürokratischer Wasserkopf soll bluten
■ Durch eine Reform der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte will der Rechungshof 700 Millionen Mark jährlich einsparen. Gestern bliesen die Gewerkschaften zum Protest
Die Gewerkschaften müßten sich freuen: Ein Relikt der Klassengesellschaft im deutschen Sozialsystem soll fallen, die Rentenanträge von Arbeitern und Angestellten sollen künftig über die gleichen Schreibtische wandern. Die 23 Landesversicherungsanstalten (LVA), bislang nur für Arbeiter zuständig, sollen sich auch um Angestellte kümmern. Der Bundesrechnungshof glaubt, damit ließen sich rund 700 Millionen Mark jährlich einsparen.
Für die Politiker und Gewerkschafter in der Hauptstadt hat die Sachen nur einen Haken: Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) in Berlin-Wilmersdorf, ein bürokratischer Wasserkopf mit 16.000 Beschäftigten und 23 Millionen Versicherten, verlöre einen gewichtigen Teil ihrer Aufgaben – und ihres Personals. Zehn Prozent der rund 80.000 Arbeitsplätze in der gesetzlichen Rentenversicherung sollen wegfallen.
Kein Wunder also, daß die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) gestern zum Protest gegen die Pläne bliesen. Rund 8.000 Beschäftigte von BfA und Berliner LVA zogen gestern mit Trommeln, Trillerpfeifen und wehenden Fahnen zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der Berliner City, um gegen den Abbau von Arbeitsplätzen zu protestieren. „Die Trommeln sollen den Politikern in den Ohren klingen“, sagte der stellvertretende ÖTV-Vorsitzende Ernst-Otto Kock unter begeistertem Beifall.
Mit ihrem gemeinsamen Protest wollten die Beschäftigten von Bundes- und Landesanstalt zeigen, daß sie „sich nicht aufeinanderhetzen lassen“, sagte Kock, der einen Verlust von bis zu 15.000 Arbeitsplätzen befürchtet. Er forderte eine Beteiligung der Beschäftigten an der Organisationsreform. Die Bundesregierung habe versprochen, die Reform sozialverträglich umzusetzen. Schließlich arbeite man „für eine Versicherung und nicht für eine Verunsicherung“, sagte Kock. Der DAG-Bezirksvorsitzende Norbert Franiel fügte hinzu, mit einem Verwaltungsaufwand von nur 1,7 Prozent arbeite die gesetzliche Rentenversicherung schon jetzt außerordentlich kostengünstig.
Unterstützung haben die Gewerkschaften von den Berliner Lokalpolitikern erhalten. Mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen forderte der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) „Sicherheit für die Beschäftigten“. Auch SPD-Spitzenkandidat Walter Momper warnte davor, die BfA zu „zerschlagen“.
Bereits vor zwei Jahren waren ähnliche Reformpläne am Widerstand der Arbeitnehmer gescheitert. Diesmal ist das jedoch unwahrscheinlich. Eine Verkleinerung der BfA sehen alle Modelle zur Umstrukturierung der Rentenversicherung vor, die derzeit im Umlauf sind.
Den radikalsten Vorschlage machte die Unternehmensberatung Roland Berger. Sie hat 1995 ein Sparpotential von 1,62 Milliarden Mark ausgemacht. Demnach würden sogar 27.000 Arbeitsplätze zur Disposition stehen.
Bayern und Baden-Württemberg führen die Riege der elf Bundesländer an, denen es schon immer ein Dorn im Auge ist, daß ihre Landeskinder über die Rentenbeiträge Arbeitsplätze in Berlin finanzieren. Die Länder schlagen vor, daß die BfA nur noch jene Versicherten verwalten soll, die vor 1960 geboren sind. Die Akten aller jüngeren Arbeitnehmer sollen sofort auf die Länder verteilt werden.
Moderater sind die Pläne des Bundesrechnungshofs, der sich mit einer Einsparung von 700 Millionen Mark zufriedengeben würde. Dann könnte die BfA ihre bis jetzt aufgelaufenen Akten behalten, lediglich die Neuzugänge würden gleich unter die Fittiche der Landesanstalten kommen. Dann würden langfristig rund 8.000 Arbeitsplätze wegfallen, „kurzfristige Freisetzungen“ wären nach den Vorstellungen des Rechnungshofs aber nicht nötig.
Klarheit soll nun eine Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Sozialpartnern bringen, die im April eingesetzt wurde. Arbeitsminister Walter Riester (SPD) will sich nach Auskunft seiner Sprecherin auf die „Rolle des Moderators“ beschränken. Ziel sei es, die „Effizienzprobleme“ der Rentenversicherung „sozialverträglich“ zu lösen. Ralph Bollmann Julia Weidenbach
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