Spanner über den Dächern

Die Wiener Festwochen gehen zu Ende, aber das Match fand nicht statt: Uraufführung von Ute Rauwalds „killed bei P.“ nach Kleists „Penthesilea“  ■   Von Cornelia Niedermeier

„Sechs häßliche Töchter. Inc“, Ute Rauwalds Beitrag zu dem von Luc Bondy ins Leben gerufenen Regiewettbewerb, war die Entdekkung der letztjährigen Wiener Festwochen. Knappe sechzig Minuten lang verwandelte sie die Bühne in eine schwerelos-bunte Spielwiese der Erinnerung. Erinnerung an das Leben mit Geschwistern. Genauer: sechs Schwestern. Da bildeten sich Allianzen, spielten die Jüngeren, beobachteten neugierig die Älteren, die schon von richtigen Jungs träumten, Englischsprachiges trällerten, BH trugen, sich schminkten und überhaupt ziemlich erwachsen daherstolzierten.

Gemeinsam mit ihren sechs komikbegabten jungen Schauspielerinnen hatte die 34jährige Hamburger Regisseurin einen Abend komponiert, der paßte wie das Lieblings-T-Shirt von damals und rhythmisch stimmte wie der Sound der allerersten Disco-Nächte. Garcia Lorcas Stück „Bernarda Albas Haus“ lieferte die Grundsituation, das Eingeschlossensein der Schwestern im Elternhaus. Das war der Zündfunken für Ute Rauwalds höchst eigene, gegenwärtige Phantasie. Der Rest war Beobachtungsgabe und Rhythmusgefühl. Ein Hauch von Pina Bausch wehte in dieses körperkomische Schau- und Hörspiel.

Gemeinsam mit Jan Bosse hatte Ute Rauwald den Regiewettbewerb gewonnen und damit eine zeitlich unbegrenzte Inszenierung in diesem Jahr. Wieder diente ihr ein Klassiker als Ausgangspunkt: Aus Kleists „Penthesilea“ wird Ute Rauwalds „killed by P.“ Das Schlachtfeld in Badekabinen, nach Geschlechtern getrennt – hier blau, dort rot. Geschlechterkampf im Strandbad. Zweimal fünf Darsteller auf jeder Seite, das Match war eröffnet. Ute Rauwald hätte, dank ihrer Beobachtungsgabe und ihrem Sinn für Momentaufnahmen wieder ein genauer theatralischer Gegenwartsschnappschuß gelingen können. Hätte ... Denn wünschte man bei „Sechs häßliche Töchter Inc.“ mindestens weitere sechzig Minuten vom kostbaren Geschenk Theaterglück, so verhielt es sich angesichts der zweistündigen Spielzeit von „killed by P.“ genau umgekehrt. Das Match nämlich fand nicht statt. In nachamazonischen, also postfeministischen Zeiten trafen die Geschlechter kaum mehr aufeinander. Nach dem Geschlechterkampf die Geschlechterentfremdung? Ute Rauwald jedenfalls teilte den Abend in zwei durch die Pause säuberlich geschiedene Halbzeiten, bei fast grundsätzlicher Einhaltung der Eingeschlechtlichkeit. Men first: Gummilatschenhelden in Bademantel, Witze reißend, von Orgasmus faselnd, Spanner über die Dächer der Badekabinen hinweg. Baggersee mit Pommes frites. Nur – wo im vergangenen Jahr die Bilder, der Rhythmus einer feinen Nostalgie wie von selbst zu entspringen schienen, blockierte an diesem Abend eine Botschaft den Weg. Also kreierte das (deshalb?) durch die Bank farblose junge Männerensemble nicht Selbsterlebtes, sondern spielte den Mann als fremdes Wesen. Männer karikierten – andere, ältere, dämlichere – Männer aus dem Blickwinkel der Frau.

Wo Ute Rauwalds Frauen lustvoll aus eigenen Erinnerungen geschöpft hatten, entstand TV-Komödien-Talmi. Und obendrauf: Kleist. Textfragmente, begleitet von klassischer Gestik. Sperrige Fremdkörper im Strandbad der Gegenwart. Und ungewollt verrutschte die Botschaft zu Leander Haußmannscher Klassiker-Flapsigkeit. Man wünschte, Ute Rauwald hätte den ausgereckten Zeigefinger eingezogen, die gemeinsam mit Dramaturg Bernd Stegemann ausgebrütete, unklare Geschlechter-Theorie zurückgenommen und erneut der eigenmächtigen Aussagekraft guter Beobachtung und ihrem Humor vertraut.

In der zweiten Halbzeit punktete zumindest das eingespielte Frauenensemble. In der selbstbewußten Komik von Melanie Kretschmann, Martina Schiesser, Mira Partecke, Vivien Schnepel und Claudia Wiedemer, weitgehend die Schauspielerinnen des letzten Jahres, offenbarte sich sowohl der Wert kontinuierlicher Ensemblearbeit als auch Ute Rauwalds intimere Vertrautheit mit der Frauenwelt. Kleist jedoch fühlte sich in den weiblichen Badekabinen erneut merklich unwohl.

Nach Jan Bosses „Jekyll and Hyde“-Paraphrase fand mit „killed by P.“ also auch die zweite Gewinn-Inszenierung des Regiewettbewerbs nicht zu ihrem Rhythmus. Das mag Zufall sein, kann aber auch hindeuten auf Grundsätzlicheres: Junge Regisseure bedürfen nicht nur eines Batzen Geldes für die Entwicklung ihrer Arbeit, sondern künstlerischer Auseinandersetzung im Rahmen eines stabilen Umfeldes und gezielter Ensemblearbeit. Ein Festival kann solche Stabilität nicht bieten. Im Fall von Ute Rauwald und Jan Bosse liegt es bei Tom Stromberg, dem künftigen Intendanten des Hamburger Schauspielhauses, der beide als Hausregisseure verpflichtete, ihrer Arbeit die nötige Förderung und Kontinuität zu sichern. Wie auch von anderen Einkaufsintendanten auf dem heißumkämpften Jugendmarkt zu hoffen bleibt, daß sie ihre Akquisitionen nicht als Quotenware für junges Publikum betrachten, sondern sich ihrer Verantwortung stellen.

Zurück zu den Wiener Festwochen. Diese plätschern ihrem Ende entgegen. Das zweite Jahr des Intendanz-Triumvirats Luc Bondy (Schauspiel), Klaus-Peter Kehr (Musiktheater) und Hortensia Völckers (Tanz) wiederholt im wesentlichen das Bild des ersten: Neben der längst fälligen, umjubelten Präsentation der Arbeiten Thomas Ostermeiers in Wien und Olga Neuwirths hervorragender Oper „Bählamms Fest“ (Libretto: Elfriede Jelinek) dominierten altbekannte Meister die Szene: Frank Castorf mit seiner genialen „Dämonen“-Inszenierung, Peter Zadeks „Hamlet“. Luc Bondy war mit zwei Inszenierungen bei sich zu Gast, im Musiktheater wieder einmal Jürgen Flimm mit der altbackensten „Fledermaus“ des Jahres, im Tanztheater gewohnt qualitätsvoll William Forsyth.

Schmerzlich fehlt dieser Konzentration auf das bekannte Regietheater des deutschsprachigen Raums die einst spartenübergreifende, internationale Avantgarde-Schiene, die unter der engagierten Dramaturgie Brigitte Führles die Arbeiten Robert Lepages, Nigel Charnocks, der Wooster-Group, Jan Lauwers', Jan Fabres, Rezah Abdohs und vieler anderer in Wien präsentiert hatte. Führles Arbeit fiel der rigiden Grenzziehung der neuen Sparten-Monarchen zum Opfer. Mitsamt dem Willen zur ästhetischen Neuerung. Cuius regio, eius theatrum. Fazit: Aus Wien derzeit nichts Neues.

In diesen postfeministischen Zeiten treffen die Geschlechter kaum noch aufeinander