piwik no script img

Zuviel Kuh für den Stall

Als die Hallenhaus zu klein wurde: Die Ausstellung „Stein auf Stein“ zeigt ländliches Bauen zwischen 1870 und 1930  ■ Von Ulrike Bals

Am Anfang war die Halle. Vieh und Menschen lebten friedlich unter einem Dach. Gekocht wurde an einer offenen Feuerstelle, geschlafen im Wohnteil zum Deich. Doch mit der einsetzenden Industrialisierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich alles – auch auf dem Land.

Der Wandel im ländlichen Bauen zwischen 1870 und 1930, insbesondere im Landkreis Harburg, ist Thema der Sonderausstellung „Stein auf Stein“ im Freilichtmuseum am Kiekeberg. Die anschauliche Dokumentation mit zahlreichen Exponaten, Fotos, Film- und Tonaufnahmen und sogar einem 1:1-Modell einer Baustelle ist bis zum 31. März 2000 im idyllischen Rosengarten-Ehestorf zu sehen. Im Rahmen des volkskundlichen Ausstellungsverbundes „Arbeit und Leben auf dem Lande“ wird die Dokumentation anschließend in drei weiteren Regionen der Bundesrepublik gezeigt.

Besonders die Phase der Hochindustrialisierung Deutschlands zwischen 1873 und 1914 hinterließ im ländlichen Boden tiefe Abdrücke, in denen sich zugleich die gesellschaftlich wie politisch bedeutsamen Veränderungen widerspiegeln. Der Einsatz von Kunstdünger und neu entwickelte Maschinen zum Säen, Dreschen und Mähen brachten den Bauern wirtschaftlichen Aufschwung – und dem seit Jahrhunderten bewährten schleswig-holsteinischen Hallenhaus das Ende. Die Kornspeicher waren zu klein für die stickstoff-gedüngten Wunderernten und die neuen Zuchtrinder zu groß für die alten Stallboxen des ausgedienten schwarz-bunten Niederungsviehs.

Dem einsetzenden Bauboom begegnete man mit neuen Baustoffen und industrieller Massenproduktion – die ersten automatisierten Herstellungsverfahren lassen sich an den ausgestellten Werkzeugen und Maschinen gut nachvollziehen. Schnell fanden die neuen Techniken und Materialien Eingang in die Baugewerkschulen, die überall im Deutschen Reich entstanden. Maurer und Zimmerer wurden zu Baumeistern ausgebildet – sehr zum Unmut der Architekten, die unter Auftragsmangel litten. Fast 90 Prozent aller Bauentwürfe um 1900 zeichneten Absolventen der Baugewerkschulen, deren einheitlicher Stil den ländlichen Raum bei Harburg prägte: massive Backsteinbauten mit flachgeneigten Teerpappe-Dächern und vorfabrizierten, historisierenden Guß- und Putzornamenten.

Der unbefangene Umgang mit den Stilen vergangener Epochen rief jedoch bald eine vehemente Heimatschutzbewegung auf den Plan, an deren Spitze der Architekt Paul Schultze-Naumburg stand. Über Land reisend dokumentierte er fotografisch „gute“, weil traditionelle, und „schlechte“, weil neue Architektur und beeinflußte damit maßgeblich die Gesetzgebung der Baubehörden.

Immerhin 100 Bauanträge im Heimatstil wurden zwischen 1906 und 1930 in den Kreisen Winsen und Harburg eingereicht. Den Aufbruch in die „modernen Zeiten“, das zeigt die Ausstellung am Kiekeberg eindeutig, konnten die Heimatschützer jedoch nicht mehr bremsen.

„Stein auf Stein“, Freilichtmuseum am Kiekeberg, 21224 Rosengarten-Ehestorf; geöffnet Di bis Fr von 9-17 Uhr, Sa + So von 10-18 Uhr. Infos unter Tel.: 790 17 60.

Der empfehlenswerte Begleitband kostet 44,80 Mark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen