„Ich habe mich gewöhnt“

■  Die Kreuzberger Autorin Anja Tuckermann (37) über ihr Jahr als Stadtschreiberin in Hellersdorf. „Hellersdorf und Kreuzberg sind zwei Welten, aber nicht nur für mich, auch für die Leute hier“

taz: Mit welchen Erwartungen sind Sie vor einem Jahr nach Hellersdorf gekommen?

Anja Tuckermann: Ich habe gehofft, ungestört arbeiten zu können, und durch das Geld, das ich bekommen habe, nicht tausend andere Jobs machen zu müssen. Ich hatte mich vorher schon einmal beworben, weil ich dachte, es ist eine fremde Welt für mich, ein anderes Leben als in der Innenstadt Westberlins. Ich wollte wissen, wie das Leben dort ist.

Und wie ist es?

Ich hatte die Vorstellung, daß alles gleich aussieht und sehr eng ist, daß die Leute beengt leben und vielleicht auch beengt sind in dem, wie sie Sachen beurteilen. Aber wenn man länger hier ist, vergrößert sich der Blick auf die einzelnen und auch auf die Gegenden. Hier sieht alles ziemlich neu aus. Mein neunjähriger Sohn, der in Kreuzberg aufgewachsen ist, dachte, daß alle in Hellersdorf reich sein müssen, wegen der vielen neuen und sauberen Autos.

Was ist dran an dem Klischee von der Platte und den Glatzen?

Natürlich gibt es rechte Jugendliche und eine weitverbreitete Fremdenfeindlichkeit. Die richtet sich gegen alles, was fremd ist. Aber es gibt auch Linke und Leute, die richtig tolle Sachen auf die Beine stellen. Aber ich habe schon gemerkt, daß Leute geguckt haben, nur weil ich anders gekleidet bin oder ein schrottiges Rad habe.

Was haben Sie vermißt?

Man kann hier in der Stadt nicht spazierengehen oder sich einfach ins nächste Café setzen. Man kann hier auch nicht so gut essen gehen. Wenn ich mit Jugendlichen eine Schreibwerkstatt mache, würde ich gerne mal aus der Schule rausgehen. Aber man kann nicht wirklich rumlaufen, es ist nur ein Haus am andern und Straße und Autos.

Nie wieder Hellersdorf?

Ich kann mir vorstellen, daß ich mit den 26 Jugendlichen, mit denen ich Interviews gemacht habe, ab und zu telefonieren werde. Die Interviews werden demnächst als Buch erscheinen und haben mich für meine Arbeit an einem Theaterstück über rechtsorientierte Jugendliche sehr angeregt. Hellersdorf war für mich ein Ort, wo ich mich zurückziehen konnte, wo ich aus meiner Welt raus war. Es gibt durch Lesungen, die ich an Schulen gemacht habe, auch Kontakte zu Lehrern, die mich wieder einladen wollen. Außerdem erlaubt mir die Wohnungsbaugesellschaft, noch länger hier die Wohnung zu nutzen, um einige Projekte zu Ende zu führen.

Ist Hellersdorf immer noch „ein fremder Planet“ für Sie?

Nein, ich habe mich gewöhnt. Manchmal mußte ich mich schon überwinden herzukommen, weil man von Kreuzberg eine Stunde mit der U-Bahn braucht. Doch wenn man sich nicht verläuft und etwas weiß, was man anderen zeigen kann, ist das schon ein heimisches Gefühl. Am meisten prägt sich das Stadtbild ein. Wenn ich in einer Plattenbausiedlung in den neuen Bundesländern eine Lesung habe, weiß ich gleich, wo die Schule und der Kindergarten sind, weil die Siedlungen alle gleich gebaut sind.

Wie verschieden sind Hellersdorf und Kreuzberg?

Das sind zwei Welten, aber nicht nur für mich. Auch für die Leute, mit denen ich hier gesprochen habe. Viele haben Angst, nach Kreuzberg zu fahren, weil sie fürchten, überfallen zu werden. Wenn man kaum Leute um sich herum sieht, die anders aussehen oder verschiedene Sprachen sprechen, dann ist das für viele eine Reise in ein anderes Land.

Einige Jugendliche haben mir gesagt, daß sie mal raus wollen und mal mit Ausländern oder Schwulen reden wollen, mit Leuten, die anders sind als die, die sie jeden Tag sehen. Das Problem ist, daß es eigentlich keine große Notwendigkeit gibt, aus Hellersdorf herauszugehen, weil es wie eine Stadt für sich ist, wo es alles gibt.

Sie fragten sich kurz nach Ihrem Amtsantritt, ob man „rechtwinklig zu denken beginnt, wenn man rechtwinklig lebt“. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Das kann man nicht beantworten. Die Leute hier haben einen Sinn für Ordnung, der mir fremd ist. Ich sehe oft Leute, die ihre Kinder zurechtweisen, daß sie ihr Hemd in die Hose stecken sollen. Das erinnert mich an die 60er Jahre, wo das Leben in den Städten kontrollierter war.

Sie kamen als Fremde und gehen als ...?

Auf jeden Fall mit neuen Erfahrungen. Interview: B. Bollwahn de Paez Casanova