: „Schmerz ist eine Grunderfahrung“
■ Die Kunstdozentin Marina Abramovic plädiert für studentische Ausstellungspraxis. Ein Gespräch
taz: Marina Abramovic, in Ihren Performances tun Sie Dinge, die ans Pathologische grenzen. Ist Kunst verrückt?
Marina Abramovic: Mir ist oft Masochismus vorgeworfen worden. Dabei ist Schmerz eine tiefe Grunderfahrung. In der westlichen Kultur ist die Kenntnis vom Körper sehr begrenzt. Wir schöpfen den Körper nicht aus. Wir haben Angst vor Leiden und Schmerzen. Das Leben besteht aber aus beiden Seiten – dem Schönen und dem Schmerz. Performances sind eine Bühne, um das zu zeigen. Wenn man diesen Eindruck in der Performance vermittelt, kommt man dazu, den Schmerz zu wollen. Andere Kulturen haben Riten und gehen durch den Schmerz. Aber nicht aus Masochismus; für sie ist es ein geistiger Sprung, mit dem sie sich von Angst befreien.
Muß man Schmerzen überhaupt noch darstellen?
Keiner wird sich verändern, wenn er die Schmerzen anderer sieht. Wir können hundert Menschen im Fernsehen sterben sehen, ohne daß sich bei uns etwas verändert. Was dabei zählt, ist die eigene Erfahrung.
Ist Kunst heilsam?
Es wäre schön. Beuys glaubte, Kunst könne das ganze Leben verändern. Ich denke nicht so. Kunst kann Meinungen ändern, nicht aber das Leben.
Spiegelt sich diese Einstellung in Ihrer Tätigkeit als Hochschullehrerin wider?
In dem Praxisbuch „art-cooking“ versuche ich Wissen und Erfahrung in sehr offener Form weiterzugeben. Für die Studenten sind Ausstellungen im professionellen Raum nötig, nicht nur in der Akademie. Das deutsche Studiensystem bewirkt, daß man mit 35 Jahren noch an der Hochschule sitzt. Das ist zu lange. Den Studenten fehlt jede Motivation, herauszugehen. Rembrandt hat mit 26 Jahren seine besten Arbeiten gemacht, Rubens mit 30 Jahren. Im Kunstverein Hannover begann die erste Ausstellung. Wir nannten sie „finally“, sie dauerte 24 Stunden. Die niedersächsische Landesregierung unterstützte uns mit 60.000 Mark. Und wir erhielten Anfragen für weitere Ausstellungen. So kam auch „fresh air“ zustande, eine Ausstellung, die ab 15. September in Weimar läuft, zusammen mit anderen internationalen Künstlern. Jetzt haben wir Ausstellungsangebote aus der ganzen Welt. Das ist großartig. „unfinished business“ ist eine Arbeit im Prozeß, ist unfertig. Das Ergebnis ist offen. Als professioneller Künstler ist es schwierig, immer offen zu sein. Alle meine Studenten sollen sich in ihre eigene Richtung entwikkeln. Keiner soll den Professor imitieren.
Sie haben mit Ihren Studenten Fastenübungen über mehrere Tage gemacht. Läßt sich daraus Kraft beziehen für die Kunst?
Es ist wichtig, einen klaren Gedanken zu fassen. Das ist möglich durch diese Exerzitien. Es ist nicht wichtig, was du tust; es ist wichtig, mit welcher Geisteshaltung man etwas tut. Es kommt darauf an, Dinge bewußt zu tun, ohne Ablenkung durch Alkohol, Drogen und so weiter. Es gilt: Weniger ist mehr – more and more of less and less. Interview: Holger Klemm
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