Der kleine Schumi und das Boxen-Luder  ■   Von Joachim Frisch

Im Mai besuchte mich Bruce, ein Freund aus New York. Ich holte ihn vom Flughafen ab. „Damned, was ist los in Good Old Germany?“ begrüßte er mich mit seinem liebenswerten Akzent und winkte mit einem zusammengerollten Exemplar der Bild-Zeitung. „Ist nicht Krieg in Europa? Ist nicht Deutschland dabei, zum erstenmal seit 45?“ Ich nickte. „Wer oder was ist ein ,Kleiner Schumi‘, warum verfolgen ihn Boxen und Luder?“ fragte er, etwas verwirrt. „Ist ,Kleiner Schumi‘ ein Kampfjet der Bundeswehr?“

Ich nahm ihm die Zeitung aus der Hand und las die riesigen Buchstaben über den fetten roten Balken: „Kleiner Schumi verfolgt von Boxen-Luder“ – und errötete wie ein Schulbub. Wie sollte ich dem Amerikaner Bruce die politische bzw. gesellschaftliche Relevanz des kleinen Schumi und des Boxen-Luders erklären, ohne dafür, daß ich Deutscher bin, vor Scham in den Boden zu versinken?

„Schumi ist der Kosename für Schumacher, den berühmten Formel-1-Rennfahrer“, versuchte ich mich aus der Patsche zu manövrieren. „Heißt der nicht Michael?“ Mir war heiß. Sollte ich eingestehen, daß uns Deutsche in Kriegszeiten die Tatsache, daß eine möglicherweise nicht tadellos beleumundete Dame dem jüngeren Bruder eines Vizeweltmeisters im Autoschnellfahren unter Umständen ein eventuell nicht ganz seriöses Angebot unterbreitet haben könnte, mehr interessiert, als alle anderen Ereignisse auf dieser Welt? Mick Jaggers „Sex-Luder“ war auch auf Seite 1, hatte aber wenigstens den berühmten Rockstar selbst in die Bredouille gebracht.

Ich ergriff die Flucht nach vorn: „Wir nennen Michael Schumacher ,Kleiner‘, weil er immer so tief in seinem Formel-1-Wagen sitzt, daß nur noch das Kinn und die Nase zu sehen sind.“ Nun wollte auch das Boxen-Luder als Top-Meldung legitimiert sein. Zuerst warf ich die Zeitung mit dem Boxen-Luder und dem kleinen Schumi in den nächsten Mülli. Dann wechselte ich unauffällig das Thema, fragte Bruce nach den neuesten New Yorker Trends aus und kam erst zu Hause, wo ich vor der Zeitung mit den roten Balken sicher war, auf das Schumi-Thema zurück.

„Das war so mit Schumi und den Boxer-Luden“, begann ich unvermittelt, in der Hoffnung, Bruce bemerke den kleine Buchstabentausch nicht. „Ein gegnerischer Rennstall hatte ein paar Zuhälter, auch Luden genannt, engagiert“, log ich. „Die Luden sollten unseren Schumi boxen, ihm ein paar Knochen brechen, damit der beim nächsten Grand Prix nicht starten kann.“ Bruce fraß meine Story, sie ging also ohne größere Erklärungen als headlinewürdig durch, was mich ein wenig mit Stolz erfüllte. Gerade fragte ich mich, warum ich so blöd war und meinen Freund anlog, nur um den blödesten Teil dieses blöden Volkes als nicht ganz so blöd darzustellen, wie er erwiesenermaßen ja wirklich ist. Da platzte mein Herzblatt herein und winkte freudestrahlend mit einer eingerollten Bild-Zeitung: „Guck mal: die Schlagzeile des Jahres! Köstlich!“

Es brauchte vier Stunden und vier Flaschen Wein, bis Bruce die wahren Zusammenhänge kapiert hatte. Er war begeistert. Ich versprach, ihm die weiteren Folgen der Fortsetzungsgeschichte vom kleinen Schumi und dem Boxen-Luder an seine New Yorker Adresse nachzusenden.