: Goldkehlchen
■ Wenn Mutter den Schnabel nicht halten kann, muß die Tochter singen: Mark Hermans „Little Voice“ hat die Größe alter Musicals
Dem Zuschauer wird es nicht leichtgemacht in den ersten Szenen von „Little Voice“. Ohne Unterlaß wird geredet, rasch wechseln die Schauplätze, mal findet man sich in einem leicht schäbigen Wohnzimmer, mal in einem Taubenschlag auf einem Hügel hoch über einer Küstenstadt irgendwo im Norden Englands. Brenda Blethyn fegt durch die Kulisse wie ein aufgeschrecktes Huhn, gackert und flattert, und als Echo auf ihre rastlosen Bewegungen läßt Regisseur Mark Herman („Brassed Off“) auch die Bilder flattern. Manchmal brennt eine Sicherung durch, dazu erklingt ein Big-Band-Sound: „Pack up and let's fly away.“
Brenda Blethyn verkörpert Mari, eine nimmermüde Rabenmutter, gesegnet mit einer vibrierenden, drallen Gestalt und einem Organ, das vom Schnattern einfach nicht lassen mag. In ihrem Schatten steht die Figur der pubertierenden Tochter (Jane Horrocks). LV lautet ihr Spitzname – die Abkürzung für „Little Voice“. „No Voice“ wäre fast passender, kommt doch kaum ein Ton über ihre Lippen. Wie auch, wenn die Mutter den Schnabel einfach nicht halten kann?
Erst allmählich schält sich so etwas wie eine Handlung aus den unruhigen, schwirrenden Bildern und den noch unruhigeren Wortkaskaden. Herman erzählt von einer so wundersamen wie zögerlichen Selbstfindung. LV, die sich in ihrem Jungmädchenzimmer und hinter ihren ins Gesicht hängenden Haaren versteckt, wird flügge werden und ihren schützenden Käfig verlassen. Sie wird reden – und singen dazu. Und sie wird den Hügel über der Stadt besteigen, um eine Taube fliegen zu lassen und einen schüchternen Flirt zu wagen.
Bis dahin ist Mari ganz die fröhliche Witwe. Obwohl in die Jahre gekommen, verhält sie sich wie ein Teenager, trägt tiefausgeschnitte Oberteile, kurze Röcke und einen Lidschatten, so türkis, wie es die nordenglische See niemals sein wird. Regisseur Herman verkehrt die Rollen, überläßt der Mutter den Übermut der Pubertierenden, während die Tochter zu Hause dem verstorbenen Vater nachtrauert. Was für Mari Partys, Drinks und Sex im roten Chevrolet an der Hafenpromenade, sind für LV die Schallplatten, die der Vater so sorgsam angesammelt hat. Judy Garland, Marilyn Monroe und Shirley Bassey heißen die Interpretinnen, zu denen sie sich flüchtet, wenn die Mutter mal wieder allzu arg auf ihr herumgehackt hat.
So ist „Little Voice“ auch und vor allem ein Musikfilm. Ein Film, in dem Marilyn Monroe „My heart belongs to daddy“ singt und Shirley Bassey „Goldfinger“. Und in dem – das ist das Wunder – ausgerechnet die stimmlose LV die Sängerinnen imitiert, ohne daß ein Unterschied zwischen Original und Nachahmung feststellbar wäre (im Abspann übrigens erfährt man, daß die Schauspielerin Jane Horrocks selbst für den Gesang verantwortlich zeichnet: kein Playback, nirgends, verkünden mit berechtigtem Stolz die Credits). Eines nachts intoniert sie Judy Garlands „Somewhere over the Rainbow“, während ihre Mutter, deren windiger Lover Ray (Michael Caine) und der Nachtclubbesitzer Mr. Boo (Jim Broadbent) auf dem Bürgersteig stehen und lauschen – zunächst ungläubig, dann überrascht und schließlich das große Geschäft witternd: LV soll ihr Talent in einer Bühnenshow zu Geld machen.
Daß sich das schüchterne Mädchen dazu nur sehr bedingt bereit erklärt, müssen die drei Erwachsenen in einem für sie sehr schmerzlichen, fürs Publikum sehr vergnüglichen Prozeß lernen. „Up to the sky we go“, kann Ray gerade noch sagen, bevor seiner Hybris schon der Fall folgt und er „It's all over“ intonieren muß. Derweil kontert LV die Zumutungen der Erwachsenenwelt mit Filmrepliken (etwa aus Billy Wilders „Some Like It Hot“), und dann ist auch schon der große Augenblick der Katharsis gekommen. Jetzt führt Herman, der bei allem Zittern und Flattern der Bilder, bei aller dem Showbusinneß eigenen Lust an Glam und Glitter mit seinen Motiven sparsam umgeht, die durchknallenden Sicherungen ihrem dramaturgischen Zweck zu. Inmitten der Katastrophe öffnet sich für LV ein Fenster zur Welt. „Ich heiße Laura“, hält sie der endlich wortlosen Mutter entgegen, bevor sie auf dem Hügel über der Stadt einen Platz findet – ihren Platz über dem Regenbogen, wenn man denn will. Cristina Nord
„Little Voice“. Regie und Buch: Mark Herman. Mit Brenda Blethyn, Jane Horrocks, Michael Caine, Ewan McGregor u. a., GB 1998, 100 Min.
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