: Blutgedecke
■ Rückgriff auf Traditionen und Mythen: „Geyikler Lanetler“ von Mustafa Avkiran
Es ist schon eine arge Tortur, dreieinhalb Stunden lang auf einen Theatersessel gefesselt zu sein und in einer fremden Sprache ein ziemlich pathetisches Stück anschauen zu müssen. Zwar war eine deutsche Übertitelung versprochen, doch die sah dann so aus, daß etwa alle 15 Minuten mal ein Satz über der Szene aufblinkte, der nur bei guten Vorkenntnissen mit dem Stück in Zusammenhang gebracht werden konnte. Und so war der Weg der Zuschauer durch Mustafa Avkirans Inszenierung „Geyikler Lanetler“ (Von Hirschen und Flüchen) auch ein Leidensweg. Da halfen weder die bunten orientalischen Kostüme noch die sieben gutgebauten jungen Männer, die – nur mit Stringtanga bekleidet – Spielpodeste durch die Gegend schoben, chorisch marschierten und sprachen oder einfach bloß runde Tafeln mit türkischen Aufschriften vor sich hertrugen. Nach zwei Stunden stellte sich fast ein körperlicher Schmerz ein, auf den ein starker Fluchtimpuls folgte, und so gab es einen deutlichen Publikumsschwund während des Gastspiels des Türkischen Staatstheaters Ankara am Montag in der Schaubühne.
„Geyikler Lanetler“ ist der dritte Teil von Mustafa Avikrans „Mesopotamien“-Trilogie (insgesamt 12 Stunden lang), nach einem Text von Murathan Mungan. Wie bei vielen Gastspielen von „Theater der Welt“ fällt auch hier auf, daß sich das Theater offensichtlich immer stärker als Bewahrer nationaler Kulturen zu betrachten beginnt, als Bollwerk gegen die Globalisierung sozusagen. Das geschieht oft als Rückgriff auf nationale Mythologie und Tradition, die oft komplett neu erfunden werden. Bei Mustafa Avkiran endet dieser Rückgriff schließlich in staatstragender Folklore.
Mesopotamien, das Zweistromland, heute zum Teil Staatsgebiet des Irak, gilt vielen Türken als Urheimat, von wo aus sie im Mittelalter das byzantinische Kleinasien eroberten, die heutige Türkei. Avikran und Mungan, die ja auch ganz deutlich sagen, daß sie gegen die westliche „Travestie-Kultur“ sind und daß sich viele Türken in der westlichen Kultur wie Männer in Frauenkleidern fühlen, machen aus diesem Mesopotamien eine Art Gegen-Griechenland, ein Gegenstück zur Wiege der Kultur des Westens. Eine Familiensaga aus frühislamischer Zeit, von wandernden Schauspielern gespielt, die zu Beginn tatsächlich von draußen auf die Bühne des Theaters kommen und am Ende auch dorthin wieder verschwinden, ohne zum Applaus auf die Bühne zurückzukehren.
Murathan Mungan hat aber nicht nur heimische Legenden, sondern auch Homer studiert, und er präsentiert uns seine Version des Atriden-Stoffes, des vererbten Familienfluches. Bloß daß hier keine Kinder den Göttern zum Mahl vorgesetzt werden, sondern Frauen das Blut von geopferten schwangeren Hirschkühen trinken, um ihren Männern Söhne zu gebären. Esther Slevogt
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