Der Stoff ist nicht alles

■  In der Drogenambulanz erhalten Ex-Junkies Methadon und Betreuung. So könnte auch eine kontrollierte Heroinabgabe funktionieren

An der Spitze der Schlange hampelt Peter* von einem Bein auf das andere. Er wartet, daß sich die Frau auf der anderen Seite des Tresens ihm zuwendet. „Bayer, zehn Milliliter für hier und 60 zum Mitnehmen“, sagt er dann hastig. „Und ich muß unbedingt mit Bernd sprechen.“ Michaela, die Frau hinter dem Tresen, überprüft die Angaben in ihrer Liste, dann zieht sie mit einer Spritze zehn Milliliter Methadon aus einem großen Glas, füllt die durchsichtige Flüssigkeit in einen kleinen Plastikbecher und gibt aus einem Automaten etwas Wasser hinzu. „Kannst du mir heute UK geben?“ fragt sie. Doch Peter muß vor der Urinkontrolle mit Bernd sprechen.

Bernd Westermann ist Suchttherapeut und einer der fünf BeraterInnen in der Methadonambulanz, die seit gut zwei Jahren am Tempelhofer Ufer residiert. Knapp hundert ehemalige Junkies bekommen in der riesigen Kreuzberger Altbauwohnung ihr Methadon und werden hier zudem medizinisch und psychosozial betreut. Damit ist die Ambulanz für integrierte Drogenhilfe (aid), wie sie offiziell heißt, eine Ausnahme. Die meisten der insgesamt fast 3.000 Substituierten in Berlin erhalten den Ersatzstoff bei einem niedergelassenen Arzt, zur psychosozialen Begleitung müssen sie zudem in eine Drogenberatung. Die Ambulanz soll es Schwerstabhängigen leichter machen, beides zu erledigen – und gleichzeitig entnervte Ärzte von „nicht wartezimmerfähigen“ Ex-Junkies entlasten.

In Westermanns Büro wedelt Peter aufgeregt mit einem Brief. Die Staatsanwaltschaft droht, dem 38jährigen wegen siebenfachen Schwarzfahrens die Bewährung zu entziehen. „Aber fünf davon sind doch schon verhandelt worden“, sagt Peter, der eine mehr als 20jährige Drogenkarriere und zahlreiche Knastaufenthalte hinter sich hat, verständnislos. „Das können wir klären“, beruhigt Westermann.

Peter ist einer der Erfolgsfälle der Ambulanz. Seit anderthalb Jahren bekommt er Methadon, seit knapp acht Monaten ist er beigebrauchsfrei, bedröhnt sich also – anders als gut die Hälfte der aid-KlientInnen – weder mit Kokain oder Heroin noch mit Pillen oder dem unter Substituierten weit verbreitetem Alkohol. „Wir backen hier sehr kleine Brötchen“, sagt Westermann. „Unser Erfolg ist, wenn jemand sagt, er will hier weg und wir ihn an einen niedergelassenen Arzt vermitteln können.“

Auch Constanze Jacobowski, die die Clearingstelle für Substitution der Ärztekammer leitet, hat das sogenannte Ausschleichen vom Methadon zwar als Ziel weiterhin im Kopf. „Zuerst geht es aber darum, den Leuten durch das Methadon eine ruhige Phase ohne Suchtdruck zu verschaffen, in der sie sich gesundheitlich und sozial etwas stabilisieren können.“ Das könne Jahre dauern und schlage bei etwa zwei Dritteln der Substituierten an. Etwa fünf Prozent beginnen eine Clean-Therapie.

Zwei Türen weiter sitzt Martin* zappelnd im Behandlungszimmer von Christian Jellinek, einem der beiden ÄrztInnen der Amblanz. Um den rechten Arm hat Martin einen dicken Verband. Er hat sich Methadon gespritzt und jetzt einen Abzeß. Und weil der so wehtut, hat er auch noch gekokst und ein paar Pillen eingeschmissen, gesteht er dem Arzt, bevor dieser die Ergebnisse seiner allwöchentlichen Urinkontrolle auf dem Schreibtisch hat. Immerhin hat er nicht versucht, mit Hundepisse oder auf der Szene gekauftem Urin den Beigebrauch zu vertuschen.

„Und was soll jetzt passieren?“ fragt Jellinek. Martin heult, er will einen Vollentzug im Krankenhaus machen. Bis dort ein Bett frei ist, brauche er aber noch etwas Methadon für zu Hause. „Ich kann immer so schlecht einschlafen“, sagt er. Jellinek ist skeptisch. „Der bescheißt sich selbst“, sagt er später, „und genau das dürfen wir nicht zulassen.“ Sanktionsmöglichkeiten hat Jellinek kaum. Er kann runterdosieren und den Patienten im schlimmsten Fall rausschmeißen. „Aber dann ist er ja wieder auf der Szene.“ Dem Abhängigen einen Spiegel vorzuhalten und so eine Entwicklung möglich zu machen, daß sei die wichtigste Aufgabe der Ambulanz, sagt Jellinek. „Der Stoff ist nicht das Entscheidende.“

Doch Jellinek weiß auch, daß Methadon zur Falle werden kann. „Es kann Leute davon abhalten, andere Lösungswege zu suchen“, sagt der Arzt. Die Landesdrogenbeauftragte Elfriede Koller fordert deshalb eine bessere Prüfung, ob für einen Klienten Methadon das Richtige ist. „Bei Abhängigen, für die Methadon nur die Basisversorgung ist, aber weiter in der Drogenszene sind und auch noch trinken, bin ich skeptisch“, sagt Koller. Fraglich sei auch, ob bei jungen Leuten Substitution der richtige Weg sei. Die Drogenberater sehen das anders: „Warum soll man auf eine lange Drogenkarriere und einen Totalabsturz warten?“ Bislang, so die noch bis zum Sommer gültige Bundesregelung, muß man schwerkrank oder schwanger sein, um Methadon zu bekommen. Bezahlt werden Ersatzstoff und Arzt meist von den Krankenkassen, die psychosoziale Begleitung übernehmen die Sozialämter.

Jellinek verhandelt mit Martin, die Ergebnisse hält er im Computer fest: Runterdosierung, damit der Entzug nicht ganz so schlimm ist, und kein Take-home-Methadon. Die Richtlinien dafür sind im vergangenen Jahr bundesweit gelockert worden, seitdem nimmt das Problem mit Schwarzmarkt-methadon zu. Doch auch der Konsum in der Ambulanz schützt vor dem Mißbrauch nicht vollständig. Manchmal, so erzählt der Arzt, versuchen Substituierte, das Methadon am Tresen nicht runterzuschlucken und spucken es vor der Tür in ihren Plastikbecher, um es dann zu verkaufen. Weil bei einigen Drogentoten inzwischen auch Methadon nachgewiesen worden ist, ist der Ersatzstoffs nach fast zehnjährigem Einsatz in Verruf geraten. Zu Unrecht, finden die DrogenberaterInnen: „Die Sterblichkeitsrate bei Substituierten ist deutlich niedriger als bei Junkies.“

Doch auch die Hilfeeinrichtungen sehen Verbesserungsbedarf bei der Methadonvergabe. Immer wieder in der Kritik steht ein kleiner Teil der 215 ÄrztInnen, die Methadon abgeben. Ihnen wird vorgeworfen, den Ersatzstoff zu leichtfertig und auch gegen Barzahlung abzugeben, nicht ausreichend auf psychosoziale Betreuung zu drängen und zudem große Mengen von Schlaf- und Beruhigungstabletten zu verschreiben. „Motivation können Geld, aber auch Retterphantasien von Ärzten sein“, sagt Jacobowski von der Ärztekammer. Erfolglose Ermittlungsverfahren gab es bereits.

Die psychosoziale Begleitung ist schlecht finanziert. So arbeiten viele der BetreuerInnen auf mies bezahlten Honorarstellen, die Fluktuation ist entsprechend groß. „Die Beziehungskontinuität ist ein großes Problem“, sagt Jacoboswski. Die BetreuerInnen selbst klagen vor allem über fehlende Beschäftigungs-, Qualifizierungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Substituierte. „Sie haben den Stoff, aber plötzlich nichts mehr zu tun.“

Wie negativ sich das auswirken kann, mußte die aid im vergangenen Jahr selbst erfahren. Eine Gruppe ihrer Substituierten hing am Kanal und im U-Bahnhof Möckernbrücke herum, zog Junkies und Dealer an – und die AnwohnerInnen liefen Sturm. Jetzt ist dies für die PatientInnen der Ambulanz bei Rausschmißdrohung strikt untersagt. Die MitarbeiterInnen machen zweimal am Tag Kontrollgänge.

Es halb eins, seit zwölf Uhr ist die Methadonausgabe eigentlich vorbei. Im Gang vor dem Tresen herrscht Hochbetrieb. „Warum dauert das so lang“, pöbelt ein langhaariger Typ. „Manchmal braucht man wirklich die Ruhe“, stöhnt Michaela und lächelt den nächsten Patienten an. Peter hat längst seine Urinkontrolle abgegeben und eine Wochenration Methadon mitgenommen. Jetzt ist er auf dem Weg zu seinem Job. Sabine am Orde

*Name geändert