: Davenport siegt – keiner sieht hin
Populär wie ein Würstchenverkäufer: Lindsay Davenport spielt heute um den Einzug ins Halbfinale, aber genießt es, links liegen gelassen zu werden ■ Aus Wimbledon Matti Lieske
Jelena Dokic ist nicht nur eine 16jährige Tennisspielerin, deren Erfolgsserie in Wimbledon langsam unheimlich wird, sondern auch eine mitteilungsfreudige Person. „Ach, ich lese keine Zeitungen“, vertraute sie nach ihrem 6:4, 6:3-Achtelfinalsieg gegen Mary Pierce einem vollbesetzten Saal leicht konsterniert dreinblickender Mitglieder der Presse an, „was in den Zeitungen steht, hat doch mit der wirklichen Welt nichts zu tun.“ Hintergrund der Nachfrage waren die Tratschgeschichten, mit denen Londons Tabloids gegen die serbisch-australische Familie Dokic und insbesondere Vater Damir, den „Dad aus der Hölle“, zu Felde ziehen. Der trainiert seine Tochter nicht nur, sondern berät sie während der Matches angeblich verbotenerweise mit kleinen Gesten von der Tribüne aus. Beim Turnier in Birmingham war er wegen übermäßigen Anfeuerns von Ordnern abgeführt und dann wegen Trunkenheit und unbotmäßigen Benehmens festgenommen worden. In London, so ein BBC-Reporter, sei die ganze Familie preisgünstig in einem Stundenhotel abgestiegen. Das ehrenwerte Travel Inn Hotel war nicht amüsiert und droht mit Klage.
Derartige Probleme mit den Medien kennt Lindsay Davenport nicht, teilt aber trotzdem die Einschätzung ihrer jungen Kollegin. Die gebildete 23jährige mit einer Vorliebe für Alternative Rock und Independent Movies liest Zeitungen, ist jedoch froh, daß sie darin kaum vorkommt. „Von vielen Dingen, die ich über andere Spielerinnen lese, weiß ich, daß sie komplett falsch sind. Ich würde es hassen, mich ständig gegen Anschuldigungen zu wehren, die nicht wahr sind.“ Ihre Portion an schlechter Presse hat allerdings auch Lindsay Davenport gehabt.
Niemand hatte Zweifel, wer gemeint war, als der ungalante Niederländer Richard Krajicek vor einigen Jahren über die „fetten Kühe“ herzog, die sich auf der Frauen-Tennistour herumtrieben. Bei einer Größe von 1,89 Meter schleppte die Kalifornierin einiges an Übergewicht mit sich herum, was sie gern zugab und jederzeit zu verteidigen wußte. Weder war sie von ehrgeizigen Tenniseltern getrieben noch selbst übermäßig ambitioniert, und sie hatte wenig Lust, sich zu sehr zu quälen. Ihr guter Aufschlag, ihre Reichweite sowie die soliden Grundschläge genügten, um sich unter den ersten 20 der Weltrangliste zu behaupten. Ihre Unbeweglichkeit verhinderte dagegen den Sprung an die Spitze.
Irgendwann hatte sie den Spott und die unnötigen Niederlagen dann aber doch satt, reduzierte systematisch die überflüssigen Pfunde und spielt zur Zeit nach eigener Aussage „das schlankeste Wimbledon“ ihrer Karriere. Zum Glamourgirl hat sie indes auch die Abmagerungskur nicht gemacht. Weder ihr strenger Gesichtsausdruck noch ihr glanzloses Spiel sind dazu angetan, das Publikum in Rage zu versetzen. Mittlerweile hat sie Olympia gewonnen, die US Open, war die Nummer eins und steht derzeit auf Platz zwei der Weltrangliste. Trotzdem ist ihre Popularität in etwa der des Würstchenverkäufers auf dem „Tee-Rasen“ vergleichbar. Selbst hier, im Südwesten Londons, wo jeder Hemdzipfel von Agassi, Graf oder Kournikova eine Massenhysterie verursacht, kann sie sich ungehindert bewegen. „Ich verursache keinen Menschenauflauf“, sagt sie, „und das ist großartig. Hauptsache, die anderen Spielerinnen wissen, daß ich da bin.“
Jana Novotna zum Beispiel, die, wenn das Wetter mitspielt, heute im Viertelfinale gegen Davenport anzutreten hat. „Ich kann mir vorstellen, daß sie sich freut, gegen mich zu spielen“, kommentiert die Titelverteidigerin eine entsprechende Aussage ihrer Gegnerin, „sie hat bisher immer gewonnen.“ Auf ihrem Lieblingsbelag, dem Rasen von Wimbledon, will die 30jährige dies ändern, und der Regen, der seit Montag das Turnier malträtiert, kommt ihr gar nicht ungelegen. Das trockene Wetter der vergangenen Woche hatte die Plätze sehr hart gemacht, so daß die Bälle relativ hoch absprangen, was den Grundlinienspielern entgegenkam. Insbesondere Davenport, die wegen ihrer Größe Probleme hat, an flache Bälle heranzukommen und wirksame Passierschläge anzusetzen. „Ich muß ans Netz kommen, sooft ich kann“, weiß die Tschechin, „aber es ist immer sehr schwer, gegen sie zu spielen.“
Lindsay Davenport ist in Wimbledon noch nie über das Viertelfinale hinausgekommen, erklärt aber, daß sie sich in diesem Jahr viel wohler auf dem Gras fühle als sonst. Ihre Prioritäten sind klar. Ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen sei wichtiger, als wieder die Nummer eins zu werden, sagt sie, wobei letzteres ohnehin schwer wird, da sie im Sommer eine Unmenge Weltranglistenpunkte aus dem vergangenen Jahr zu verteidigen hat. Andererseits: „Wenn ich Wimbledon gewinne, sind es nicht mehr so viele Punkte.“ Und in der Zeitung steht dann vielleicht auch etwas über sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen