Mit rasantem Schritt zum Abitur

Eines der umstrittensten schulpolitischen Themen war in diesem Schuljahr die Einführung von mehr Expreßabiturklassen. Das Expreßabi läuft zwar offiziell noch als Versuch, aber 80 Prozent der Schüler sind sehr zufrieden  ■   Von Julia Naumann

Das Tempo des Lehrers ist atemberaubend: „Was ist deine Einstellung zur Familie? Who works in the Oval Office? Nenne mir eine Figur von Shakespeare.“ Die Fragen prasseln auf die SchülerInnen nur so nieder, doch diese beantworten sie auch ebenso schnell. Fast ununterbrochen sind die Finger oben, die Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen und sind meist sehr präzise.

Eine normale Englischstunde in der 6. Klasse des Otto-Nagel-Gymnasiums in Marzahn. Dennoch kein normaler Unterricht – die 30 SchülerInnen sind in einer sogenannten Expreßklasse. Sie absolvieren ihr Abitur nicht wie sonst üblich in dreizehn, sondern in zwölf Schuljahren. Das System ist simpel: Die SchülerInnen kommen nach der 4. Klasse auf das Gymnasium und lernen in der 6. und 7. Klasse zusätzlich zum „normalen“ Unterrichtsstoff auch noch den der 8. Klasse. Zusätzliche Stunden gibt es aber nicht. Gemeinsam wird die 8. Klasse übersprungen, in der 9. oder 10. Klasse werden die Schüler dann wieder mit den anderen Schülern der Schule zusammengeführt und machen gemeinsam das Abitur.

Der straffe Zeitplan hört sich stressig an, doch zumindest die SchülerInnen der „6-1“ stört das wenig: „Mir war es an meiner alten Grundschule zu langweilig“, sagt die 13jährige Charlott Goldstein und klingt dabei überhaupt nicht altklug. „Ich war unterfordert. Mit den Arbeiten und Tests in Mathe war ich immer schon viel früher als die anderen fertig.“ Jetzt nimmt ihre Klasse in Mathematik gerade rationale Zahlen durch, das ist normalerweise der Stoff der 7. Klasse.

Auch Eric Reifenstein saß, wie er selbst sagt, die Stunden in der Grundschule nur „ab“. Anfänglich habe er sich auf der Otto-Nagel-Schule vom Tempo zwar etwas überfordert gefühlt, aber das habe sich schnell gegeben. „Am ersten Schultag hat die Lehrerin etwas an die Tafel geschrieben, dabei geredet und wir sollten die Wörter gleichzeitig auch noch abschreiben“, erinnert sich der 12jährige. „Das war ein bißchen anstrengend.“ Charlott und Eric sind jetzt zwar nach wie vor gute SchülerInnen, aber nicht mehr an der Spitze wie in der Grundschule. Charlott hat erst kürzlich eine Fünf in Englisch und Französisch geschrieben. „Das muß ich meinen Eltern noch beibringen“, sagt sie.

Geeignete Schüler für eine verkürzte Schulzeit sind für den stellvertretenden Schulleiter des Otto-Nagel-Gymnasiums, Marc-Thomas Bock, nicht etwa hochbegabte Kids. Sondern die, die eine ausgeprägtes psychosoziales Verhalten zeigten, nicht introvertiert, aber auch nicht überaus durchsetzungstark seien. „Also Kinder, die neben dem Unterricht auch noch viele andere Interessen in einem frühen Alter zeigen“, resümiert er.

Als „etwas Besonderes“, als „etwas Besseres“ oder gar als „Elite“ sehen sich Charlott und Eric wegen der verkürzten Schulzeit und den damit verbundenen hohen Anforderungen nicht. Das betonen sie immer wieder – ohne das man sie explizit danach fragt. „Wir sind ganz normale Schüler, nur eben etwas schneller“, sagt Eric selbstbewußt und in breitetestem Berlinerisch.

Die Sozialdemokraten, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie Eltern-und Lehrerverbände haben mit dem Expreßabitur jedoch mehr Bauchschmerzen. Sie wollen möglichst eine Schulbildung ohne „Seperation und Selektion“, so bringt es der GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne auf den Punkt. Nicht verwunderlich, daß es deshalb beim Thema Expreßabitur seit seiner Einführung 1994 immer wieder breite öffentliche Kontroversen gab, die sich auch in diesem Schuljahr insbesondere zwischen CDU und SPD entlud und zu einer Art schulpolitischen Vorwahlkampf führte. Es war eine ähnliche Diskussion wie um die sogenannten grundständigen Gymnasien, die ab der 5. Klasse meist mit Griechisch oder Latein anfangen und bis zur 13. Klasse gehen.

Marion Kittelmann, die schulpolitische Sprecherin der CDU, hat mit dem Wort „Elite“ dagegen keine Probleme. Ein Land, das von seinem geistigen Potentialen lebe, so ihre Argumentation, brauche Eliten, und die müßten auch schon in der Schule gebildet werden. Das sei nichts Schlechtes, betont Kittelmann, die selbst Grundschullehrerin ist. „Wir sollten uns freuen, daß es solche Kinder gibt.“

Die SPD hat im schwelenden Konflikt mit der CDU im Mai schließlich Zugeständnisse gemacht. Ab dem nächsten Schuljahr gibt es an 13 Standorten in Berlin jeweils zwei Klassen, die Expreßabitur anbieten. 1996 waren es nur sechs Standorte mit jeweils einer Klasse, 1994 nur drei.

Doch auch unabhängig von der immer gleichen GEW-Meinung sind die Stimmen äußerst skeptisch. Die Grünen lehnen das schnelle Abitur ab, plädieren eher für jahrgangsübergreifende Grundschulklassen. „Schulzeit muß auf jeden Fall individualisiert werden“, sagt die schulpolitische Sprecherin Sybille Volkholz. Peter Sperling, Vorsitzender des Landeselternauschusses, befürchtet, daß die Kinder nach der 4. Klasse durch den Schulwechsel aufs Gymnasium zu sehr aus ihren sozialen Zusammenhängen gerissen würden. Auch sei es sinnvoller, eine generelle Debatte über eine Reform der Oberstufe zu führen. Sperling merkt an, daß in Frankreich, wo alle SchülerInnen nach der 12. Klasse das Abitur machen, 60 Prozent ein Schuljahr wiederholten.

Auch Brigitte Wilhelm, Vorsitzende des Landeslehrerausschusses hält das Expreßabitur für problematisch. Natürlich lerne es sich unter „Gleichen“ gut, sagt sie. Doch was passiere mit den anderen, schwächeren Schülern, die auf der Grundschule zurückblieben? Wilhelm plädiert dafür, daß die wissenschaftliche Begleituntersuchung erst einmal abgeschlossen sein muß, um weitere Züge einzurichten. Denn das Expreßabitur läuft offiziell noch als Schulversuch. Im ersten Zwischenbericht, der an der Freien Universität erstellt wurde, attestierten 80 Prozent der Expreß-SchülerInnen eine sehr große „Zufriedenheit“. Arbeit und Zeitbelastung seien gestiegen, würden aber nicht als Druck empfunden, so die Wissenschaftler. Außerdem kam heraus, daß Mädchen aus Expreßklassen in Mathematik „signifkant“ bessere Noten hatten als Mädchen in Regelklassen.

Doch es gibt auch reale Probleme, dann nämlich, wenn die Kinder die Anforderung eben nicht schaffen. So nahm eine Mutter ihre Tochter nach der 5. Klasse wieder vom Hildegard-Wegscheider-Gymnasium – eine der Vorreiter Expreßschulen. „Die Klasse war nett, die Lehrer waren nett, doch meine Tochter war zu sehr eingespannt“, erzählt sie. Es habe keine Klassenfahrten gegeben und täglich bis zu zwei Stunden Hausaufgaben. Nach einem Jahr schickte sie das Mädchen wieder auf die alte Grundschule, da „Schule eben nicht alles im Leben ist“.

Ingesamt ist die Abbrecherquote jedoch sehr gering, seit 1994 waren es 31. Auf dem Otto-Nagel-Gymnasium ist der Andrang auch für das nächste Schuljahr sehr groß, es gab rund 150 BewerberInne. Doch nur 64 konnten genommen werden, per Losverfahren. Voraussetzung sind in der 4. Klasse mindestens die Note Zwei in Mathe, Englisch und Deutsch .

Benjamin Nitsche ist auf jeden Fall froh, daß er es vor zwei Jahren auf die Otto-Nagel-Schule geschafft hat. „Mir gefällt es hier“, sagt er. Nur eines nervt ihn: Die Schulbücher, die die gleichen wie in normalen Klassen sind. „Was nützt es mir, wenn ich nach zwölf Jahren das Abi habe, aber so unsinnige Wörte wie Affenbrotbaum oder Ruderpinne auf Französisch lernen muß?“