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Jedes dritte Wort war Boris

Nach vielen Jahren ist für Tennispieler Becker eine „aufregende Reise“ zu Ende. Nun fragen sich der Sportheld und sein Troß namens Deutschland: Was jetzt?  ■ Aus Wimbledon Matti Lieske

Glaubst du, der kann das tatsächlich gewinnen?“ fragte mich mein Gastgeber Ralf Sotscheck, damals noch nicht taz-Korrespondent, als ich im Juni 1985 nach Dublin kam. „Der“, das war ein pausbäckiger 17jähriger aus Leimen, der sich gerade ins Achtelfinale von Wimbledon gekämpft hatte und den bis dahin nur ein paar Insider kannten.

„Gewinnen wohl nicht“, sagte ich vorsichtig, fügte dann aber eingedenk eines beeindruckenden Davis-Cup-Auftritts einige Zeit vorher hinzu, „weit kommen kann er schon.“ Wenig später begab ich mich an die Westküste der Insel, in ein Haus ohne Fernseher. Dann war Finale, aber unglücklicherweise hielten die Kneipen ihre Nachmittagsruhe ein. Erst mitten im vierten Satz öffneten sich die Pforten, wenig später war Boris Becker Wimbledon-Champion.

Als ich dann nach Hause kam, fühlte ich mich wie ein Astronaut, der 200 Erdenjahre im All verbracht hat. Die Welt hatte sich komplett verändert. Jedes dritte Wort war Boris. Keine Kneipenrunde kam ohne eine ausführliche Analyse des fünften Spieles im zweiten Satz gegen diesen Amerikaner aus. Wie hieß er gleich noch? Selbst in der taz, so erfuhr ich, hatte die Produktion stundenlang lahmgelegen, und alle Beschäftigten quetschten sich vor dem winzigen und einzigen Fernseher, der im Weddinger Domizil zur Verfügung stand.

Es war ein fremdes Land, in das ich zurückgekehrt war. Ein Land, das endlich – generationen- und ideologieübergreifend – den Sporthelden besaß, nach dem es so lange gedürstet hatte. Und was für einen. Keinen Haudrauf wie Max Schmeling, der seine Erfolge zudem in einer sehr dubiosen Zeit gefeiert hatte, kein schweißfreier Schnösel wie Franz Beckenbauer, sondern einer, der schwitzte und schimpfte, kämpfte und hechtete, noch mit halbgebrochenem Fuß die Gegner niederrang und wunderschön die Faust ballte.

Dabei war er so niedlich. Gar putzige Sätze vermochte er zu formulieren, sogar gegenüber dem Bundespräsidenten oder Dieter Kürten, was sonst wenige schafften. Kraftbolzen und Knuddelbold, Bum-Bum und Bobbele, die perfekte Heldenmischung für ein Land, in dem der populärste Sportler eben noch ein dröger Schwimmer namens Michael Gross war.

Man schrieb das Jahr 1985, und die Erfolge des westdeutschen Sports waren gering. Kein Jan Ullrich, kein Michael Schumacher, die Fußball-Nationalmannschaft nach der verpatzten EM 1984 in Trümmern, die paar Olympiamedaillen 1984 in Los Angeles wertlos, weil die sozialistischen Staaten nicht da waren. Und plötzlich hatte man unverhofft ein Faustpfand, das man dem östlichen Nachbarn im kalten Sportkrieg entgegensetzen konnte.

Der Spieler selbst blieb seltsam unberührt und unbeschwert. Abgeschirmt von zwei Herren, die er als „meine Väter“ bezeichnete – der richtige hatte längst nichts mehr zu melden –, ging er daran, seinen Wimbledonsieg mit guten Resultaten zu untermauern, offenbarte Ansätze von Charisma, genoß die Rolle als Liebling der Nation und die gute Presse, die nicht von Dauer sein sollte.

Bald nämlich zeigte sich die andere Seite des Tennis-Sweethearts, die rebellische, in Deutschland weniger gern gesehen. Einen seiner Väter, Günther Bosch, jagte er zum Teufel, den anderen, Ion Tiriac, degradierte er zum Manager, und schließlich „entdeckte er in aller Öffentlichkeit sein Geschlechtsleben“, wie es der Journalist Cordt Schnibben in etwa ausdrückte. Sätze begann er jetzt gern mit den Worten „Wie jeder Mann“, seine Affäre mit der schönen Benedictine wurde von der Boulevardpresse im Detail verfolgt. Die Demontage des Idols war auf dem Höhepunkt, als nach monegassischer Steuer- und Wehrdienstflucht 1988 auch noch die Erfolge ausblieben.

Becker rächte sich mit dem Davis-Cup-Gewinn Ende des Jahres in Göteborg und berief danach extra eine Pressekonferenz ein, um den Medien die Leviten zu lesen. Sein kurzer Flirt mit der Linken und der Hafenstraße Anfang der 90er mündete bald in eine Karriere als konservativer Geschäftsmann, ins geregelte Familienleben und in eine neue Medienkrise. 1993 war er der „tapsige Bär“, und eine unsinnige Umfrage erklärte Stich zum neuen Tennisidol. Wie immer kam Becker zurück, zuletzt dieser Tage in Wimbledon zum „letzten Hurra“, wie er glaubhaft versicherte. „Es war eine aufregende Reise“, faßte er seine Wimbledon-Erinnerungen nach der Achtelfinalniederlage gegen Pat Rafter zusammen. Das ist eine Aussage, die man getrost als Etikett für die gesamte Karriere verwenden kann. Die Frage ist, wo die Reise jetzt hingeht. „Ich werde auf jeden Fall dem Tennis verbunden bleiben“, erzählte Becker der internationalen Presse und genoß es sichtlich, wie ehrfürchtig die Journalisten an seinen Lippen hingen.

In Wimbledon, New York, Melbourne, Paris ist er einer der ganz Großen des Tennissports, zu Hause kann er auf ähnliche Bewunderung nicht bauen. Zwar ist es sein Verdienst – und das von Steffi Graf –, daß seit 1985 die Tennisklubs in Deutschland aus den Nähten platzen, Millionen zum Schläger gegriffen haben und sich der Deutsche Tennis Bund (DTB) und andere Unternehmen manch goldene Nase verdienten. Auf übermäßige Dankbarkeit kann er weder bei Spielern noch bei Funktionären rechnen. „Wenn er etwas für das Tennis tun will, sollten ihn alle mit offenen Armen aufnehmen und küssen überall“, sagt Ion Tiriac. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Verbandsfürsten verhinderten die Wahl eines bekkerfreundlichen DTB-Präsidenten, weil der ihre Macht beschneiden wollte, der dann gewählte Präsident brüskiert Becker mit Gedankenspielen über eine Einbindung des ungeliebten Stich, ein geltungssüchtiger Sportwart will ihm Befehle erteilen, und die Spieler meutern gegen die erdrükkende Dominanz des Davis-Cup-Teamchefs. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was Männertennis in Deutschland ohne Becker eigentlich noch wert ist. Bis zuletzt war er es, der die Hallen füllte und für Einschaltquoten sorgte, und ein zweiter Boris BeckerBecker ist weder in Sicht noch überhaupt möglich.

Gewiß ist nur eins: Die Aufgabe, das deutsche Tennis zu retten, wird ungleich komplizierter, als mit 17 Wimbledon zu gewinnen.

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