: Angst vor dem Amoklauf der Armen
In Indonesien ist die gesellschaftliche Ordnung durch die schwere wirtschaftliche und politische Krise aus den Fugen geraten. 30 Millionen Jobs gingen verloren, das Durchschnittseinkommen sank von 1.200 auf 400 Dollar ■ Aus Jakarta Jutta Lietsch
Vor der Küste Jakartas dümpelt seit Wochen ein Schiff, voll betankt und mit allen wichtigen Nahrungsmitteln an Bord. Die Manager eines ausländischen Unternehmens westlich der indonesischen Hauptstadt haben es gechartert – für sich, für die indonesischen Kollegen, für alle Fälle. Denn in diesen unsicheren Zeiten ist es ein gutes Gefühl, schnell fliehen zu können, zum Beispiel wenn wieder einmal der Mob zuschlägt. Die Zäune um das Fabrikgelände sind mit Stacheldrahtrollen verstärkt, die Kommandanten der nächstgelegenen Armeestützpunkte bekommen regelmäßig Geld zugesteckt: „Falls es Probleme gibt, wollen sie ihre Einheiten sofort losschicken“, sagt der indonesische Abteilungsleiter Sarsono (Name geändert).
Bisher haben sich die düsteren Ahnungen, die Sarsono mit vielen Indonesiern teilt, nicht bestätigt: Daß es rund um die Parlamentswahlen Anfang Juni wieder zu schweren Unruhen kommen würde wie im Frühjahr vergangenen Jahres, als die Wut des Volkes auf den Straßen Jakartas Präsident Suharto zum Rücktritt zwang und Tausende Gebäude in Flammen aufgingen. Sarsono: „Niemand weiß, wann die Armen und die Arbeitslosen aus den Vierteln in der Nähe plötzlich Amok laufen und das Industriegelände stürmen.“
Seine Sorge ist nicht unbegründet: Seit Suhartos Sturz ist die gesellschaftliche Ordnung aus den Fugen geraten. Die neue „Reformasi“-Zeit hat noch keine neuen Regeln geschaffen. In den letzten Monaten besetzten Arbeiter und Bauern Bauplätze, verwandelten Golfplätze in Felder oder besetzten Fabriken, um höhere Löhne zu fordern. Bewohner aus den Armenvierteln nahe Sarsonos Betrieb plünderten Lastwagen und Lagerhäuser. Die meisten Opfer der schweren Wirtschaftskrise, die bisher landesweit 30 Millionen Jobs vernichtet hat, leben in den Städten und Industriezentren. Das Durchschnittseinkommen ist nach Weltbankschätzungen von 1.200 Dollar auf 400 US-Dollar gesunken. Mittlerweile verlassen sich die Manager von Sarsonos Firma nicht mehr allein auf Stacheldraht und Armee. Sie begannen, Reis in den Nachbargemeinden zu verteilen, wo sie Anführer möglicher Unruhen vermuten.
Verblüfft mußte Sarsono allerdings feststellen, daß die Empfänger nicht nur dankbar reagierten. Sie verlangten bald mehr: „Wir sollten ihnen versprechen, in unseren Betrieben Arbeitsplätze für sie zu schaffen“, berichtet der Manager. Unter Suharto, meint er, wäre es „unvorstellbar gewesen, daß wir mit diesen Leuten überhaupt verhandelt hätten“. Sarsono ist dabei kein reaktionärer Scharfmacher. Er weiß sehr gut, daß der Zorn der Menschen eine logische Folge jahrelanger Repression ist – auch wenn er sich nun bedroht fühlt.
Auf der anderen Seite stehen Leute wie die 41jährige Soziologin Wardah Hafidz, die derzeit versuchen, die ungewohnten Freiräume zu nutzen und die Mächtigen zum Dialog zu zwingen. Die zierliche Frau mit dem kurzem Haar und den klugen Augen leitet das „Urban Poor Consortium“, eine der unüberschaubaren Zahl von Bürgerrechtsgruppen, die inzwischen entstanden sind – als Teil der großen und zersplitterten Demokratiebewegung. Die Mitglieder der Gruppe – Sozialarbeiter, Künstler, Studenten – wollen, wie sie sagt, „die Ärmsten der Armen unterstützen, um sich selbst zu organisieren und sich selbst zu helfen“. In diesen Tagen beraten sie streikende Arbeiter.
Wardah Hafidz Büro, geschmückt mit abstrakten Bildern und ausgelegt mit umweltfreundlichen Strohmatten, liegt in einer kleinen Seitenstraße in Jakartas Vorort Kalimalang. Einige hundert Meter weiter erinnern die verkohlten Ruinen des „Hero“-Supermarktes an die Krawalle des letzten Jahres. Wardah hat sich starke Feinde gemacht, als sie kurz vor den Wahlen die Behörden beschuldigte, Hunderte Millionen Dollar Weltbankgelder mißbraucht zu haben. Statt die Fonds des sogenannten sozialen Auffangnetzes an die ärmsten Opfer der Wirtschaftskrise zu verteilen, habe die Regierungspartei sie für ihren Wahlkampf genutzt. Viel sei auch in Taschen der korrupten Bürokratie hängengeblieben, behaupteten Wardah und ihre Freunde: „Bei den Bedürftigsten, für die das Geld gedacht war, ist kaum etwas angekommen.“
Die unter Präsident B. J. Habibie von ihren Fesseln befreite Presse berichtete von den Vorwürfen tagelang auf den Titelseiten. Die Weltbank verzögerte die Auszahlung von Krediten und versprach, die Vorwürfe zu prüfen und künftig auf mehr Transparenz bei der Geldvergabe zu drängen. Seitdem fliegen Steine durch die Scheiben von Wardahs Büro. Unbekannte drohen am Telefon, ihr Haus abzubrennen. An ein Fluchtschiff denkt sie allerdings nicht.
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