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Unterkühlte Gefühlswege

■ Der Erzählband „Zärtliche Kannibalen“ von James Purdy

Entfernt kann man sich an den berühmten Kleistschen Satz erinnert fühlen, der von Küssen und Bissen handelt und davon, wie eng diese beieinanderliegen. Denn vom Emotionalen als Lust und als Last, davon erzählen die Geschichten des amerikanischen Schriftstellers James Purdy. Zugegeben: Manchmal streifen die Erzählungen die Klippe der schwulen Altmännerphantasie. Die meisten Sätze über ist Purdy aber viel zu gut dazu. Lakonisch registriert sein unterkühlter Erzählstil die Gefühlswege seiner Figuren.

Sechs Erzählungen des 1923 geborenen James Purdy aus drei Jahrzehnten hat der Hamburger MännerschwarmSkript Verlag zu einem Band zusammengefaßt und unter dem Titel Zärtliche Kannibalen herausgegeben. Vier Geschichten davon erscheinen zum erstenmal auf deutsch.

Zärtliche Kannibalen, der Titel bezieht sich direkt auf die Geschichte „Schmutzfuß, der Kannibale“, in der es einen auf vegetarische Diät gesetzten Menschenfresser zu einem Ausflug nach New York zieht. Ein hübsches Märchen. Die anderen Geschichten sind genauso trocken erzählt, auf gar keinen Fall aber so kindlich verspielt. Und in ihnen sind Zärtlichkeiten und Aggressionen manchmal nicht leicht auseinanderzuhalten. Das Zusammenleben zweier Menschen ist für Purdy durchaus nicht nur etwas unverbindlich Nettes. Aspekte von Menschenfressertum in verschiedenen Graden sind in jeder der emotionalen Bindungen, die er schildert, enthalten.

Jemand rennt durch die Straßen, ein Plakat in Händen, auf dem er sich selbst des Mords bezichtigt. Aus Eifersucht hat er seinen Liebhaber erschossen, der allerdings schon vorher in seiner unbeheizten Bruchbude erfroren war („Das Leuchten deiner Augen“). Ein anderer muß im Verlauf einer weiteren Geschichte scheinbar unbeteiligt feststellen, daß er von einer reichen, alten Dame verführt wird („Mr. Evening“). In einer dritten Geschichte teilen Bruder und Schwester die Zuneigung zum Sohn der Schwester, nach ihrem Tod werden dann Onkel und Neffe zum Paar („Verklärung“). Purdys Figuren werden von Leidenschaft getrieben; einer Leidenschaft allerdings, die ihnen selbst sprachlos bleibt. Purdy deutet sie bloß an und erzählt von ihr, indem er sie in anderen Figuren spiegelt. Und wenn die Leidenschaften zu ihrem Ziel kommen, in einer Umarmung etwa, dann läßt er das Bild einfrieren. Es ist diese hohe Kunst der indirekten Schilderung, die schließlich endgültig für James Purdys Geschichten einnimmt.

Tobias Meiner

James Purdy: Zärtliche Kannibalen, aus dem Amerikanischen von Jürgen Abel, 125 Seiten, 32,– Mark

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